Anatomie Einer Nacht
Material musste selbst mitgebracht werden, dafür stand das Werkzeug zur Verfügung, Hammer, Säge, Meißel, Messer verschiedener Größe und Schärfe, und dieselben Leute versammelten sich hier zu denselben Zeiten, sie wurden seine Freunde, seine Familie, vor allem Malin, eine der wenigen Frauen, die ihren Unterhalt mit dem Verkauf von kleinen Figuren aus Tierknochen, Eisbären, Raben und Robben, bestritt.
Um seine Waren zu verkaufen, trug er sie stets bei sich, trug sie entweder um den Hals oder hatte sie in sämtlichen Taschen verteilt. So ging er vom Hotel zum Hafen und vom Hafen zum Hotel, auf der Suche nach den wenigen Touristen. Ein Amulett würde ihm eine Dose Bier bringen, und wenn er Glück hatte, waren sogar bis zu drei möglich. Heute verkaufte er nichts. Die Deutsche, Ella, winkte ab, sie sei auf dem Weg zum Hafen, sagte sie, er hatte sie kaum verstanden, sich auf die Stufen vor der Post gesetzt und Ausschau nach neuen Kunden gehalten. Mikileraq, die Lehrerin aus Westgrönland, die seit einem Jahr mit ihrem Mann in Amarâq lebte, blieb vor ihm stehen, sie hatte ihre Adoptivtochter bei sich. Sie musterte ihn, dann sagte sie: Ich möchte nichts kaufen.
Aber sie würde ihm etwas zu essen besorgen, fuhr sie fort. Per antwortete nicht, sondern stand auf und drehte sich um, um wegzugehen, da hielt ihn Mikileraq am Ärmel fest.
Warte, lauf nicht weg, zeig mir deine Arbeiten.
Während er die Schnitzereien auf den Steinstufen auslegte und die Ketten vom Hals nahm, ruhte ihr Blick auf seiner Hand, auf dem großen, runden, dunkelbraunen Muttermal auf dem Handrücken in der Nähe des Gelenkknochens. Er fühlte ihren Blick und zog, etwas verschämt, den Pullover darüber. Er war schon als Kind deswegen ausgelacht worden, wegen der Größe und weil es wie ein starkbehaartes Tier aussah. Nein, sagte sie plötzlich, ich möchte nichts kaufen. Sie schien mit einem Mal zerstreut, geistesabwesend, auch ein wenig verschreckt, sie zog sich von ihm zurück, stellte das Kind zwischen sich und ihn, aber sie konnte nicht weggehen, ohne die Frage zu stellen: Ist das dein Beruf, bist du Künstler?
Per schüttelte den Kopf und wandte sich ab, weil er spürte, dass sie nichts kaufen würde. Sie hielt ihn ein zweites Mal auf.
Warte.
Sie öffnete ihre Geldbörse, entnahm ihr ein paar Scheine und steckte sie in seine Jackentasche. Überrascht griff er nach ihrer Hand.
Danke.
Sie lächelte und sagte, nichts zu danken, doch in ihren Augen lag eine Traurigkeit, die sich Per nicht erklären konnte. Vielleicht war es dieser Blick, der ihm Unbehagen bereitete, vielleicht war es auch Scham: Er beschloss, kein Bier zu kaufen, doch als er aufsah, war sie bereits fort.
Derselben Scham, denkt er, während er die dunkle Straße bergab stolpert, hat er es nun zu verdanken, dass er in die nächste Bar muss, um sich Nachschub zu besorgen.
5 Keyi stellt den Rucksack auf dem Couchtisch ab, öffnet ihn, nimmt die erste Bierdose heraus, setzt sich auf das Sofa und beginnt zu trinken. Die Kerze im goldenen Kerzenhalter entzündet er, als er ein Feuerzeug in der Hosentasche findet. Während er ihr Flackern beobachtet, trinkt er langsam die Dose leer und greift zur nächsten. Er versucht, an nichts zu denken, die Erinnerungen, die sich in seinen Kopf schieben, sind in ihrer Kargheit erstaunlich trostreich: als würden sie versichern, es sei möglich, die Vergangenheit zu tilgen –
das letzte Gespräch mit Malin am Telefon, als sie fragte, ob sie und sein Enkel ihn besuchen kommen könnten, und er antwortete, nein, sie könnten nicht kommen, und schnell auflegte, bevor sie Fragen stellen, Geld schicken würde, das doch nur ein Almosen wäre, und plötzlich fällt ihm auf, dass er sich in Malins Haus befindet, nicht seine, aber eine Malin, und er hebt sein Bier und trinkt darauf. Es scheint ihm passend, bei Malin untergekommen zu sein, noch dazu im Haus der Enkelin jener Malin, in die er als junger Mann so heftig verliebt gewesen war, dass er sich geschworen hatte, einmal seiner Tochter ihren Namen zu geben, damit sie würde wie seine Besitzerin: klug, spröde und auf eine so unerträgliche Weise grausam, dass Keyi Kristina als die Lösung aus seiner Verstrickung mit Malin gesehen hatte. Malin hatte ihn nicht gehen lassen wollen, aber sie hatte sich geweigert, ihn zu lieben, und es ihm gesagt, ich weigere mich, dieser Satz hatte lange nachgehallt. Er wiederum hatte nicht aufhören können, sie zu lieben, und darunter gelitten, dass sie ihm
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