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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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wieder hergeben, aber sie folgte ihm die Treppe hinunter und die zwanzig Meter bergauf bis zur Pforte des Kinderheimes, dort setzte sie sich auf die Bank in der Eingangshalle. Ob sie etwas trinken oder essen wolle?, fragte Lars hilflos. Sie schüttelte den Kopf, also setzte sich Lars neben sie und wartete mit ihr, denn er wollte sie nicht allein lassen. Nach einer Weile lehnte sich Julie an ihn, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und kuschelte sich an seinen Arm.
    Sie wussten nicht, wie lange sie nebeneinandergesessen und gewartet hatten, in dieser einträchtigen Stille, die so sehr in sich abgeschlossen war, dass sie das Gefühl bekamen, die Zeit ginge sie nichts mehr an, sie befänden sich außerhalb von ihr –
    bis Sivke diese Zweisamkeit störte: Sie stürzte sich auf Julie und umarmte sie, die Decke fiel zu Boden und blieb dort als Hülle liegen, als Kokon. Dann wandte sich Sivke Lars zu, zum ersten Mal seit dem Zusammenstoß im Supermarkt sah sie ihn an, und es war ihm, als würden ihre Blicke kollidieren.
    Sie schwieg, sie schien etwas sagen zu wollen, er konnte die Wörter sehen, die, eines nach dem anderen, auftauchten und in der Luft hängenblieben, als wäre deren Oberfläche aufgeraut, sie aber überlegte es sich anders und bedankte sich.
    Tak .
    Als sie sich zum Gehen wandte, hielt er sie am Arm zurück und sagte, dass er ihr etwas Wichtiges sagen müsse. Sie blieb stehen, ihr Gesicht von ihm abgewandt, Julie in den Armen.
    Lars sagte, und er flüsterte mehr, als er sprach, er habe Aids. Sie nickte, antwortete nicht. Er lockerte seinen Griff, sie durchquerte den Vorraum mit drei großen Schritten, und er sah sie, obwohl Amarâq so klein ist, nie wie-der –
    als bliebe sie seinen Augen, bloß seinen, verborgen.
    Seine Großmutter schläft, sie hat sich in den letzten Wochen erholt, bald wird sie ihre Besorgungen wieder selbst erledigen können, den Fisch ausnehmen, die Beeren sammeln, die Wäsche waschen, wie sie es vorher getan hat, sie wird ihn nicht mehr brauchen, im Grunde hat sie ihn nicht gebraucht, denkt Lars, er brauchte sie, es war eine Ausrede, dass er ihretwegen zurückgekommen ist, er ist seinetwegen zurückgekommen.
    Er steht dicht am Fenster, bald wird es zu dämmern beginnen, denkt er, der Tag wartet schon. Seit seiner Rückkehr aus dem Westen versucht er, den Rhythmus der Zeit wiederzufinden, vergeblich; sie funktioniert nach einem Prinzip, das er nicht länger versteht.
    Die Zeit ist anders hier.
    Er sieht sie nicht mehr, fühlt sie nicht mehr, sie ist ihm entwischt, irgendwann, er kann sich nicht erinnern, wann genau.
    Als er zum Jagdgewehr seines Großvaters greift und die Sicherung löst, verschwindet die Müdigkeit, der Ballast der letzten Monate, der letzten Jahre –
    so nah ist er sich selten.

3    Idi richtet sich auf.
    Sie ist etwas benommen, wischt sich mit dem rechten, dann mit dem linken Ärmel die Spucke aus dem Gesicht und steht auf. Sie taumelt und muss sich am Regal abstützen. Ihr ist schlecht, sie geht in Richtung der Kassen, setzt sich dort auf den Boden und sieht sich um. Anders ist nicht zu sehen. Rufen kann sie ihn nicht, denn sie hat Angst, sich übergeben zu müssen, wenn sie den Mund öffnet.
    Sie schließt die Augen, atmet langsam durch die Nase, ihr Magen beruhigt sich. Sie sieht sich um, kein Anders.
    Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zum Eingang des Marktes zu gehen und von dort aus die Regalreihen systematisch abzusuchen, zuerst die Bauabteilung mit den Maschinen und Geräten, dann die Fleischabteilung, Milchabteilung, Gemüse- und Obstabteilung. Sie tappt durch die Reihen mit Brot- und Backwaren, Müsli, Cornflakes, Süßigkeiten, Marmelade, Reis, Mehl, Öl, und während sie sich umsieht, hat sie das Gefühl, dass die Regale näher rücken und sie ihnen nur entkommen kann, wenn sie schneller ist, also beginnt sie zu laufen, aber sie verirrt sich, denn sie verliert die Orientierung. Die schmalen Gänge verschlingen sich in ihrer Vorstellung ineinander, zu einem Labyrinth, aus dem es einzig ein Entkommen gäbe, wenn sie größer wäre als diese metallenen Regalwände, und verzweifelt fängt sie an zu springen, nicht im Stehen, sondern im Laufen, sie springt und läuft, sieht aber noch immer nicht, wohin sie sich bewegt und wie sie diesen verschlungenen Pfaden entkommen kann, also räumt sie eines der Regale leer, die Müsli- und Haferflocken-Packungen wirft sie einfach auf den Boden und klettert auf das Regaldach, über die Fächer, die sich zwar

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