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Anatomie Einer Nacht

Anatomie Einer Nacht

Titel: Anatomie Einer Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kim
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ungewöhnlich heißer Sommer mit klaren Tagen, an denen die optische Täuschung noch ausgeprägter war als sonst und alles so nahe wirkte, dass man das Gefühl hatte, überallhin mit Leichtigkeit gehen zu können –
    als wäre alles erreichbar, absolut alles: unverhoffte Endlichkeit.
    An dem Tag, als die Wolken die Berge zudeckten, sah er Sivke das erste Mal richtig. Er kannte sie seit seiner Kindheit und doch hatte er sie nie wirklich wahrgenommen, an diesem Nachmittag aber, als er die Tür der Uuttuaqs öffnete, mit einem Fuß schon im Haus stand, ein Ellbogen in seinen Rücken gestoßen wurde und er sich umdrehte, sah er direkt in ihre Augen, und es war ihm, als sähe er mehr, denn sein Blick wurde von einem Gefühl erwidert –
    eines, das ihm alle Worte nahm, wann immer er ihm begegnete. Im Grunde war es weniger ein Raub, vielmehr das langsame Zerfallen von Sprache, bis nichts mehr übrig war als Stille, und in dieser Leere spürte er ausschließlich den Kontakt, der entstanden war, und nichts anderes brauchte er, für ihn ersetzte er alles, alle Sätze, alle Bekenntnisse. Erst viel später verstand er, dass er begonnen hatte, sich zu verwandeln, inuk , Mensch, zu werden, sagte seine Großmutter, als sie das erste Mal die Veränderung an ihm wahrnahm. Und doch war sie ihm nicht geheuer, sie ängstigte ihn, denn sie nahm ihm alles Gewohnte, ersetzte das Bestehende durch etwas Fremdes, das er in dieser Form noch nie erlebt hatte. Seine Möglichkeiten, die Welt zu begreifen, hatten ihre Bedingung geändert, und er musste sie sich neu erarbeiten. Es war, als hätte er alles verlernt oder wäre an einem Ort angekommen, an dem nichts vom Erlernten mehr gültig war; der Lernprozess war mühsam, schmerzhaft, vieles machte er falsch, und es blieb ihm nicht verborgen, dass er sich fehlerhaft, mangelhaft verhielt, so begann er sein Verhalten zu kontrollieren, jede Bewegung, jedes Wort, bis bloß noch leere Phrasen und Gesten übrig waren. Er hatte sich selbst verloren, glaubte er, er wusste nicht mehr, wer er war, konnte sich nicht mehr auf sich verlassen, und nur wenn er mit Sivke zusammen war, gelang es ihm, Kontakt mit sich aufzunehmen, doch selbst dann störte sie die Übertragung.
    Er gestand ihr einen Teil seiner Liebe, für das volle Geständnis war die Situation zu unklar. Bald begann er, sich und sie zu belauern, jedes Wort, jedes Gefühl in Frage zu stellen, abzuklopfen, und immer wieder glaubte er sich zu irren, sich selbst missverstanden zu haben, nicht das zu empfinden, was er als Liebe bezeichnen würde, und er wartete darauf, dass sich diese Einbildung verflüchtigen würde, doch sie hielt sich hartnäckig, dachte nicht daran, sich aus dem Staub zu machen, und langsam schien es Lars, als würde Sivke ihm diktieren, was er zu fühlen habe; dass es ihr so ähnlich ging wie ihm, kam ihm nie in den Sinn.
    Sie verliebte sich mit einer solchen Heftigkeit, dass sie nicht anders konnte, als zu seinem Schatten zu werden, ein Stück Nacht, das sich an seine Seite heftete und ihn begleitete, Schritt für Schritt. Schließlich schlief sie mit ihm, sie konnte nicht anders, obwohl sie wusste, dass sie ihren Freund betrog, den Mann, den sie liebte, und sie liebte ihn noch, obwohl sie auch Lars liebte, es war, als hätten sich sowohl ihre Gefühle als auch ihre Person verdoppelt, als gäbe es sie zwei Mal, und beide Sivkes liebten unterschiedliche Männer. Lars kam dies gelegen, denn er nahm es als Zeichen, dass das, was zwischen ihnen entstanden war, nicht wirklich, nicht von Dauer war.
    Er musste dies glauben, wenn er seine Freundschaft mit Janus erhalten wollte, er sagte sich, dass die Liebe, die er für Sivke empfand, eine jener Lieben sei, die für einen Moment aufflammen, um ebenso plötzlich zu vergehen, wie sie gekommen waren.
    Sie sei schwanger, sagte Sivke am Abend, nachdem sie den ganzen Tag in den Bergen an den Seen verbracht hatten. Was werde sie tun?, fragte Lars nach einer langen Pause, er müsse zurück in den Westen, um seine Ausbildung zu beenden, er könne sich nicht um sie und das Kind kümmern, außerdem, sagte er, Janus –
    sie unterbrach ihn.
    Ich weiß.
    Sie müsse Janus die Wahrheit sagen, meinte sie, sie könne ihm nicht mehr verschweigen, dass er und sie ein Paar seien, ein Paar, unterbrach er sie, sie seien kein Paar, und rückte von ihr ab, sie brauche Janus nicht die Wahrheit zu sagen, fuhr er fort, denn sie würden einander ab morgen nicht mehr sehen, morgen werde er abreisen, dann werde es

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