Ancient Blades 2 -Das Grab der Elfen
PROLOG
Der Hieromagus kniete im Licht der aufgehenden unterirdischen roten Sonne, umgeben von seinen Akolythen und Kriegern und den Steinwänden dieses Ortes. Er war sowohl Zauberer als auch Priester und trug ein einfaches Gewand mit klirrenden Glöckchen. Ihr Klang sollte ihn in die reale Welt zurückholen, in die Gegenwart, aber jetzt brachte er sie zum Schweigen. Jetzt musste er sich erinnern.
Die Ahnen sprachen mit ihm. Für die seit langer Zeit Verlorenen war das Vergessen eine Art Tod. Verzweifelt zerrten sie an ihm und versuchten, ihn in die Erinnerungen an uralte Wälder hineinzuziehen, an eine Zeit, bevor die ersten Menschen zu diesem Kontinent kamen. Bevor sein Volk vernichtet worden war, man es vertrieben und vergessen hatte. Er sah ihre großen Schlachten, sah die magischen Werke, die sie erschaffen hatten. Sah die kleinen, zärtlichen Augenblicke, die sie geteilt hatten, wie auch die Schuld und die Scham, die sie hinter sich zu lassen versuchten. Er sah Könige, Königinnen und einfache Leute in anständiger Kleidung. Er sah Aethlinga, die neunundsiebzigste Königin ihrer Dynastie, die später zu so viel Höherem aufgestiegen war. Eine Seherin. Eine Zukunftsdeuterin. Damals, in tiefster Vergangenheit, war sie zum ersten Hieromagus geworden. So wie er der letzte sein würde.
Sein Körper zuckte, seine Lider waren in ständiger Bewegung, als träume er. Eine junge Dienerin tupfte mit einem Stück Schwamm seine Stirn ab. Er wollte sie wegscheuchen, aber versunken in seinen Tagtraum konnte er die Finger bloß den Bruchteil eines Zolls heben.
»Ich kam, sobald ich die Segel sah. Ich wusste, das würdest du mit deinen eigenen Augen sehen wollen«, sagte der Jäger. Gemeinsam erklommen die beiden den bewaldeten Kamm, der sich über dem südlichen Meer erhob. Ein Baum, eine uralte Eberesche, reichte höher als der Rest. Ae t hlinga war alt und gebrechlich, trotzdem kletterte sie an den Ästen in die Höhe, um besser sehen zu können.
Auf dem Meer verharrten die Schiffe mit gerefften Segeln bewegungslos auf den Wogen; Flüch t linge drängten sich in den Wanten. Weniger verzweifelt als vermu t lich noch zuvor. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Unten am Strand legten Boote an, lange schmale Holzboote voller Männer. Behaart, ungewaschen, mit aufgesprungenen, vom Skorbut mit Geschwüren versehenen Lippen. Nach ihrer langen Reise waren ihre Gesichter grimmig und hager.
In den Händen hielten sie Waffen aus Eisen.
»Wer sind sie?«, fragte der Jäger. »Sie haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Ogern, aber … was sind sie? Was wollen sie?«
Achthundert Jahre später bewegten sich die Lippen des Hieromagus. »Sie wollen Land. Einen Ort für einen Neuanfang. Was sie sind? Sie sind unser Tod.«
Wo der Hieromagus endete und Aethlinga begann, war schwer auseinanderzuhalten, wenn die Erinnerung ihn gefangen nahm. Er hatte diese spezielle Vision so oft gesehen. Hatte sie seiner Erinnerung anvertraut, denn sich lediglich daran zu erinnern, war ein geheiligter Ritus. Das war die Geschichte seines Volkes. Die eine Sache, die man nie vergessen durfte.
Später, als das erste Scharmützel vorüber war und die Männer aus den Booten blutend und kalt im Sand lagen – die anderen auf den Schiffen aber noch immer auf den Wellen trieben und alles beobachteten –, begab sich Ae t hlinga zu einem abgeschiedenen Hain, tief versteckt im Wald. Ein Ort, an dem sich die Ahnen um die Äste wanden und ihr Flüstern niemals verstummte. Sie hatte ihre eigenen geheiligten Erinnerungen, die sie sich ins Gedächtnis rufen musste.
Aber jetzt wandte sie sich einem Teich zu, einem einfachen Spiegel. Sie schaute in ihre eigenen Augen. Erschuf ihre eigene Erinnerung. »Ich weiß, dass du das hier sehen wirst«, sagte sie, und sie sprach einen Namen.
Sie sprach den wahren und geheimen Namen des letzten Hieromagus. Diese Erinnerung war für ihn bestimmt.
»Du musst dich daran erinnern. Diesmal nicht an die Vergangenheit, sondern an die Zukunft. Schau nach vorn und finde heraus, was kommen wird. Ich habe es auch gesehen, und du weißt, dass ich nicht darum bäte, wäre es nicht von entscheidender Notwendigkeit.«
Der Körper des Hieromagus, der so weit weg war, verkrampfte sich und zuckte. Die Dienerin wich zurück, weil sie Angst hatte, er könnte zuschlagen und sie vernichten. Das war schon zuvor geschehen.
Manche Erinnerungen waren weniger angenehm als andere, und diese hier war die schlimmste von allen. Dabei war sie keine Erinnerung.
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