Anderer Welten Kind (German Edition)
des Schreibtisches, er bemerkte es nicht. Ein stummes, fast körperloses Weinen, ein Herausfließen eines nicht enden wollenden Tränenstroms, mit dem sich der Schleim aus seiner Nase vermischte. Die rechte Hand unter dem Tisch gegen die linke Faust in auf- und abschwellenden Wellen gedrückt, verharrte er mehrere Minuten lang und schließlich wischte er sich Rotz und Tränen mit einer entschlossenen Bewegung mit dem Ärmel ab und kramte sein Schreibheft hervor, riss eine Seite heraus, nahm den Drehbleistift aus der Kiste, drehte die Mine heraus und setzte an zu schreiben.
„Liebe Mama, lieber Papa, liebe Renate …“ Weiter kam er nicht, es war zu mächtig, die Tränen verschlierten ihm die Augen, er konnte nicht ausdrücken, was er fühlte, was er vorhatte, er konnte so keinen Abschied nehmen, er konnte es nicht benennen, er wäre vor Selbstmitleid zerflossen. Gleichzeitig nistete sich der Gedanke bei ihm ein, sie sollten schon sehen, was wäre, wenn er nicht mehr da wäre, das hätten sie dann davon. Aber der Gedanke war nicht stark genug, konnte die Ungeheuerlichkeiten, die zukünftig sein Leben sein sollten, nicht verdrängen, konnten nicht beiseiteschieben, was ihn in diese Situation gebracht hatte.
An Helga dachte er mit Sehnsucht, wie gern hätte er sie noch einmal in den Armen gehalten, sie gerochen, sich ihrer vergewissert. Szenen mit Stefan fielen ihm ein, sein bester Freund, schon immer. Beide im Ringkampf, Stefan rittlings auf ihm hockend, er – wie meistens – lachend besiegt. Henze bedachte er mit „Du Schwein“, ihm hätte er gern die Schuld gegeben. Das alles konnte er nicht schreiben. Er zerknüllte das Papier und warf es in den Papierkorb unter dem Tisch. Den Drehbleistift drehte er sorgfältig zurück, legte ihn in die kleine Kiste mit den Zeichenutensilien und verstaute sie in dem Schrank. Das Tagebuch ließ er auf dem Schreibtisch liegen. Es wirkte wie ein Schuldgeständnis, als er sich langsam erhob und auf Zehenspitzen das Zimmer und die Wohnung verließ und im Dunkeln die Flurtreppe zum Dachboden heraufstieg, nachdem er den Schlüssel vom Schlüsselbrett im Flur genommen hatte.
Das Schloss quietschte, als er den Schlüssel umdrehte, und die Tür knarrte ein leises Knarzen. Es roch muffig auf dem Dachboden, zu viel Feuchtigkeit des Winters hatte sich in den Balken und in den gekalkten verputzten Wänden gesammelt, Feuchtigkeit, die sich erst mit den warmen Frühlingstagen wieder verflüchtigen würde. Er schaltete das Licht ein und eine nackte Glühbirne gleißte ihr Licht in den Raum.
In der Ecke stand der Schemel, wie er ihn schon beim Einzug vorgefunden hatte. Vielleicht war er von den Bauarbeitern vergessen worden, denn er war übersät mit kleinen, weißen Mörtelflecken. Er löste die Wäscheleine vom Haken in der Wand, schob den Schemel unter die Dachluke, stieg hinauf, warf die Leine über das Locheisen, nachdem er die Luke um ein Loch geöffnet hatte, spürte die hereinfallende kalte Luft nicht und bildete eine einfache Schlaufe mit einem Palstek. Er legt sich die Schlaufe um den Hals, überprüfte die Festigkeit der Wäscheleine und des Knotens und stieß den Schemel weg.
Der alles durchdringende Schrei von Frau Adler, als sie um sechs Uhr in der Frühe die am Abend vorher gewaschene Wäsche aufhängen wollte, gellte durchs Haus und weckte seine Bewohner oder ließ die schon Wachen zum Flur stürzen.
Christian wurde drei Tage später beerdigt und nur seiner Jugend war es zu verdanken, dass er ein christliches Begräbnis erhielt. Schon auf dem Weg zur Grabstelle, als sie alle hinter dem Sarg hergingen, dachte Fritz Lorenz, dem die Trauer das Gesicht umwölkte und dessen Mund zu einem Strich erstarrt war: Wenigstens hat der Junge ihnen diese Schande erspart, es war doch ein ganzer Kerl in ihm.
Danksagung
Ich bedanke mich für die Toleranz und den Langmut meiner Frau, Annette Ahaus, meine innere Familie der Buchakteure, die zwangsläufig während des Schreibens immer mehr Gestalt und Platz einnimmt, als temporäre Familienmitglieder an den gemeinsamen Tisch zu bitten. Bei Barbara Pellini für die ermunternde und kritische Begleitung des Projekts, für ihre Treue und für die vielen nützlichen Hinweise und die Vorab-Lektüre.
Bei den Lübecker Nachrichten für den Zugang zum Zeitungsarchiv der Jahrgänge 1955–1958 und der freundlichen Unterstützung durch die Mitarbeiterinnen. Bei Manfred Ehmer für die Bereitstellung historischer Dokumente.
Weitere Kostenlose Bücher