Anderer Welten Kind (German Edition)
Querstrich und der Aufstrich zur Eins stand ab wie ein erigierter Penis mit einer Verdickung dort, wo der Kreidestrich ansetzte.
Einige der anwesenden Augenpaare waren auf Stefan und Christian gerichtet, als sie hintereinander durch die Tür traten. Niemand sagte etwas. Christians erster Impuls war es, vorzuspringen und mit den Ärmeln die Tafel abzuwischen, er hätte in den Boden versinken mögen. Jemand hatte ihn auf dem Foto erkannt! Aber wie, wer? Der Direktor? Der Polizist? Haben die es doch weitererzählt? Himmel noch mal, mach, dass es nicht wahr ist! Stattdessen steuerte er mit gesenktem Kopf auf seinen Platz zu, als er aus den Augenwinkeln sah, wie Stefan sich vor der Klasse an der Tafel aufbaute und einen Jungen nach dem anderen taxierte. Jürgen Feddersens Mund zuckte; er prustete beinahe los. Jürgen Feddersen, Zahnarztsohn, wohnhaft in der Moltkestraße in einem der Bürgerhäuser, in deren Loggias Christian beim Heimweg das Interieur zu ergründen suchte, dumm wie Bohnenstroh und immer mitgeschleppt und nie sitzengeblieben, weil sein Papa den Ausbau der Biologie- und Physikräume in der dritten Etage finanziell mit großzügigen Spenden unterstützte. Jeder wusste das, das war kein Geheimnis, denn die Spendenliste wurde in überschwänglicher Dankbarkeit mit Elogen auf die Verbundenheit und Treue der Spender am Ende des Jahres im Bulletin des Katharineums veröffentlicht.
Stefan zwängte sich durch die erste Tischreihe, blieb vor Jürgen Feddersens Schulbank stehen, holte aus und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
„Mach das noch mal“, sagte er und wandte sich ab.
Feddersen, dem der Schrecken und die Wut das Gesicht verzerrt, schrie, was das denn solle, ob er, Stefan, nicht alle beisammen habe. Er solle sich bloß in Acht nehmen. Aber er blieb sitzen und hielt sich die Wange, auf der der Händeabdruck sich flammendrot abzuzeichnen begann. Kein Tumult brach los, niemand schrie durcheinander, die Lagerbildung blieb aus, obwohl Feddersen ein paar Claqueure hatte, die sich an ihn hängten und normalerweise lautstark Drohungen und Verwünschungen ausgestoßen hätten. Alle blieben in stummer Erwartung sitzen, beobachtend, neugierig abschätzend.
Christian setzte seinen Weg zu seinem Platz fort und plötzlich wurde es mucksmäuschenstill. Wenzel hatte den Klassenraum betreten und hob gerade an, der Klasse einen guten Tag zu wünschen, als er kurz zur Tafel sah und begriff. Er atmete tief ein und mit einem ganz eigentümlichen Gesichtsausdruck setzte er seine Aktentasche und die Hefte, die er unter den Arm geklemmt hatte, auf dem Lehrerpult ab, nahm den Putzschwamm und wischte sehr sorgfältig mit langen Strichen die Zahl aus, bis von ihr nichts mehr zu sehen war. Er drehte sich um und sagte mit leiser Stimme: „Können wir jetzt mit dem Unterricht beginnen?“ Seine Augen, die er über die Klasse streifen ließ, verrieten nicht, ob er im Bilde war. Christian suchte seinen Blick, Wenzel blieb neutral.
Helga litt. Sie hatte nichts mit der Schmiererei zu tun und schon zu Schulbeginn hatte sie, als Christian ihren Blick gesucht hatte und er anschließend blass und niedergeschlagen zu seinem Platz geschlichen war, mit ihm gelitten. Sie war immer noch empört und verletzt und gekränkt, fühlte sich zurückgewiesen, hatte aber einen größeren Hass auf Richard von Dülmen entwickelt als auf Christian. Auch wenn sie gesagt hatte „Das ist ja eklig“, hatte sie sich doch nicht vorstellen können, was passiert war. Ein Rest von Verliebtheit steckte ihr noch in den Knochen wie Wachstumsschmerzen. Aber es war vorbei und sie konnte Christian nicht helfen, zu groß waren die Demütigung und Zurückweisung. Auch in ihrem ersten Impuls wollte sie die Zahl auslöschen, bevor Christian die Klasse betrat, aber sie war durch ein Gespräch mit Ulrike abgelenkt gewesen. Jetzt litt sie stumm und sie ahnte, was Christian in diesem Moment durchmachte. Das hatte sie ihm nicht gewünscht.
Verstohlene Blicke. Flüstern hinter vorgehaltener Hand. Kopf hinreißen und sofort wieder weggucken. Aus dem Weg gehen. Berührungen vermeiden. Gerüchte bedienen und hochkochen, Neugierde satt machen. Das alles ja. Offene Bemerkungen, böse Witze, herausgezischelte Sticheleien, grinsende Häme, gespuckte oder kalte Drohungen, das nicht. Was wusste man schon? Wer wusste überhaupt etwas?
Stefan und Christian. Unter Stefans Fittichen begann Christians Trotzphase. Ihr könnt mich mal! Das sind doch alles nur Idioten! Und: Wollen wir
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