Anderer Welten Kind (German Edition)
so wie er sich als Maler fühlte, wenn er die Gemälde aus den Kunstbüchern seines Vaters nachzumalen versuchte. Natürlich nicht so wie er, ein richtiger Maler, aber in der Fantasie schon. Wie gern wäre er Maler geworden!
Er verharrte seit einer halben Stunde in dieser Position, war einmal weggegangen, um sich warm zu hüpfen und die Arme um sich zu schlagen, und langsam wurde ihm wirklich kalt. Er schaute auf seine Armbanduhr, sein Konfirmationsgeschenk von vor drei Jahren, braunes Leder, das runde, gewölbte Glas über einem schwarzen Ziffernblatt mit grün-phosphoreszierenden Zahlen und Zeigern, die jetzt auf halb fünf standen. Er beschloss zu gehen. Im Umdrehen bemerkte er nicht, dass sich hinter der Scheibe im Gartenhaus ein Schatten regte.
Der Nachmittag neigte sich, der Nachhauseweg durch das Lauerholz war lang, im Dämmerlicht nicht gerade angenehm. Angst hatte er nicht, er hatte fast seine gesamte Kindheit hier im Wald im Zonenrandgebiet in der Nähe von Schlutup verbracht, diesseits und jenseits der Zonengrenze zur sowjetisch besetzten Zone. Hier war sein Spielplatz gewesen, hier hatten seine Schwester und er im Unterholz nach Lichtungen gesucht, hatten ihre Doktorspiele gespielt, bis sich eines Tages mit den keimenden Brüsten die Schwester zurückgezogen hatte. Hier war der Teich, an dem er und Stefan nach Fröschen gesucht hatten, um sie aufzublasen und in die Luft zu werfen, wobei der Urinstrahl im hohen Bogen wie ein Antriebsaggregat wirkte, fanden die Jungen. Hier sind sie auf Bäume geklettert und hatten sich die üblichen Schrammen und blutigen Knie geholt.
Zu den verlassenen Kasernen, die jetzt Ostflüchtlinge beherbergten, traute er sich nicht, obwohl er selbst Flüchtlingskind war. Vielleicht lag es daran, dass in den Baracken ähnlichen, halb zerfallenen Gebäuden noch diejenigen festsaßen, die es bisher nicht wie seine Familie in eine der neugebauten Siedlungen geschafft hatten, vielleicht, weil es so schon schwer genug war, an die Schulkameraden seiner Klasse heranzukommen, die zum überwiegenden Teil Alteingesessene waren und die Flüchtlingskinder verachteten. Er hatte die unbestimmte Angst, die Berührung mit denen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten wie seine Familie, würde ihn hinabziehen. Wohin hinab, wusste er nicht, aber die Orientierung oder, man kann es so sagen, die Fixierung seiner Eltern auf das Lübecker Kleinbürgertum saß ihm wie eine Impfung im Fleisch. Außer zu Stefan, Flüchtlingskind wie er, da war es anders, da hatte er diese Distanz nicht. Da gab es familiäre Bezüge und die gleichen Herkünfte und Sehnsüchte nach der kalten Heimat, die immer wieder erzählten Geschichten über die Kurische Nehrung oder das frische Haff, die Ostpreußenwitze und die Anekdoten über Lorbass und Marjellchen, von Stefans Vater im heimatlichen Platt vorgetragen.
Die eigene Erinnerung daran war nur noch schemenhaft vorhanden, eine Abfolge einzelner Bilder und Stationen, die er unmöglich in ein Gesamttableau ordnen konnte. Die Flucht, die er als Vierjähriger aus Königsberg zuerst mit dem Schiff, dann auf dem Landweg über Schwerin nach Lübeck, mehr getragen oder geschoben als gelaufen, erlebt hatte, hatte sich in ihm als ein ständiger Wechsel von Zimmern und fremden Leuten, langen Warteschlangen oder von Menschen und Gepäckstücken vollgepackten Zügen, die schon nach ein paar Kilometern wieder standen, als eine fortwährende Bewegung verdichtet.
Bei seinen Streifzügen im Wald war er nie Vopos begegnet, wusste oft nicht, ob die Grenzsteine, auf die er manchmal stieß, ihn zur unerlaubten Grenzüberschreitung anstifteten. Christian liebte die Leere dieses Gebietes, das sich kilometerweit hinzog, mit seinen Mischwäldern aus Buchen und Fichten, sandigen Waldwegen, dem Moor, den Brachen. Sie war seine unwirkliche Welt, verlassen, fast luxuriös in der Nichtbeachtung durch die Stadt Lübeck, die doch so vollgestopft mit Flüchtlingen fast aus den Nähten platzte und Neubaugebiete aus dem Boden stampfte.
Ganz anders als in Lübeck-Eichholz, wo er früher wohnte. Dort war der Grenzübergang beidseitig bewacht. Dort standen sich Russen und Engländer gegenüber und beobachteten sich gegenseitig, was aber die Einwohner von Eichholz nicht daran hinderte, mit den Russen Zigaretten gegen Wodka zu tauschen oder Ostgeld in den Banken und Sparkassen diesseits der Grenze zu wechseln. Jedenfalls bis zu dem Tag im letzten Jahr im August, als die englischen und russischen Panzer,
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