ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
Rang besteht in einer Nummer. Die Ameisenkönigin ist Nummer eins, und ihre Meinung ist die einzig richtige. Sie hatte alle Weisheit gepachtet und das zu wissen war für mich von Wichtigkeit. Sie sagte vieles, was so klug war, daß es mir dumm vorkam. Sie sagte auch, ihr Haufen sei das Höchste in dieser Welt. Aber dicht bei dem Haufen stand ein Baum, der höher war, viel höher, das ließ sich nicht ableugnen, deshalb sprach man nicht davon. Eines Abends hatte sich eine Ameise dorthin verirrt, war den Stamm hinaufgekrochen, nicht einmal bis zur Krone, aber doch höher, als je eine Ameise gekommen war. Und als sie umgekehrt und wieder nachhause gekommen war, erzählte sie im Haufen, daß es etwas weit Höheres draußen gäbe. Doch das hatten alle Ameisen als Beleidigung des ganzen Gemeinwesens aufgefaßt, und so wurde die Ameise zum Maulkorb und lebenslänglicher Einsamkeit verurteilt. Aber kurze Zeit darauf kam eine andere Ameise zu dem Baum und machte die gleiche Reise und Entdeckung. Sie sprach auch davon, jedoch, wie man sagte, mit Besonnenheit und in unklaren Ausdrücken, und da sie außerdem eine geachtete Ameise, eine von den reinen war, so glaubte man ihr, und als sie starb, wurde ihr eine Eierschale als Monument für ihre Verdienste um die Wissenschaften gesetzt. "Ich sah," sagte das Mäuschen, "daß die Ameisen häufig mit ihren Eiern auf dem Rücken umherliefen. Eine von ihnen verlor das ihre und machte große Anstrengungen, es wieder aufzuladen, doch wollte es ihr nicht glücken. Zwei andere kamen Ihr mit allen Kräften zu Hülfe, so daß sie fast ihre eigenen Eier verloren hätten, da ließen sie es augenblicklich sein, denn jeder ist sich selbst der Nächste, und die Ameisenkönigin äußerte darüber, daß hierbei sowohl Herz als Verstand bewiesen worden wären. "Diese beiden Eigenschaften stellen uns Ameisen an die Spitze der Vernunftswesen. Der Verstand soll und muß das Überwiegende sein, und ich habe den größten!" sagte sie und erhob sich auf den Hinterbeinen. Sie machte sich dadurch so deutlich erkennbar - ich konnte gar nicht fehl gehen - und so verschluckte ich sie. Geh zur Ameise und werde weise! Nun hatte ich die Königin!
Ich ging nun näher an den besprochenen Baum heran; es war eine Eiche mit hohem Stamm und mächtiger Krone, die sehr alt war. Ich wußte, daß hier ein lebendiges Geschöpf, eine Frau, wohne, die Dryade genannt wurde. Sie wird mit dem Baume zugleich geboren und stirbt mit ihm. ihm. Ich hatte davon auf der Bibliothek gehört. Nun sah ich solch einen Baum, sah solch ein Lebewesen. Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, als sie mich so nahe erblickte; sie hatte, wie alle Frauenzimmer, die größte Angst vor einer Maus, doch sie hatte dazu mehr Ursache als die anderen, denn ich hätte ja den Baum durchnagen können, an dem ihr Leben hing. Ich redete freundlich und herzlich mit ihr, sprach ihr Mut zu, und sie nahm mich auf ihre feine Hand. Als sie erfuhr, weshalb ich in die weite Welt hinausgegangen war, versprach sie mir, daß ich vielleicht schon am gleichen Abend einen der beiden Schätze, nach denen ich suchte, erhalten solle. Sie erzählte mir, das Phantasus ein recht guter Freund von ihr und schön wie der Liebesgott sei. Er pflege manche Stunde der Ruhe hier unter des Baumes dichtbelaubten Zweigen, die dann noch voller über ihnen beiden rauschten. Er nenne, sie seine Dryade, und den Baum seinen Baum. Die knorrige, mächtige schöne Eiche sei gerade nach seinem Sinne, die Wurzeln klammerten sich tief und fest in die Erde, Stamm und Krone erhöben sich hoch in die frische Luft und kannten den fegenden Schnee, die scharfen Winde und den warmen Sonnenschein, wie sie gekannt werden sollen. Und die Vögel sängen dort oben und erzählten von den fremden Ländern. Auf dem einzigen verdorrten Zweige habe der Storch sein Nest gebaut, das schmücke so hübsch, und man erfahre doch einiges vom Lande der Pyramiden. "AII dies hört Phantasus so gern," sagte sie, "es ist ihm sogar nicht genug, ich selbst muß ihm noch vom Leben im Walde erzählen von der Zeit an, wo ich noch klein war und der Baum so zart, daß eine Nessel ihn verbergen konnte, bis auf den heutigen Tag, wo er so groß und mächtig dasteht. Setz Dich nun hier unter den Waldmeister und gib acht: wenn Phantasus kommt, werde ich wohl Gelegenheit finden, ihn am Flügel zu zupfen und ihm dabei eine kleine Feder auszureißen. Die nimm dann, eine bessere bekam kein Dichter;- dann hast Du genug."
Und Phantasus
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