ANDERSENS MÄRCHEN ((Sämtliche Werke)) (German Edition)
etwas ist eben gegenseitig. Ich vergaß mein Geschäft draußen in der Welt und vergaß meinen Wurstspeiler in einer Fußbodenritze, wo er heute noch liegt. Ich wollte bleiben, wo ich war. Wenn ich ging, so hatte ja der arme Gefangene gar niemanden, und das ist zu wenig in dieser Welt! Ich blieb also, aber er blieb nicht. Das letzte Mal sprach er so traurig mit mir; er gab mir doppelt soviel Brot und Käserinde und warf mir noch eine Kußhand zu; er ging und kam niemals wieder. Ich kenne seine Geschichte nicht. "Suppe aus einem Wurstspeiler" sagte der Kerkermeister, und zu ihm ging ich, aber ihm hätte ich nicht trauen sollen. Wohl nahm er mich auf seine Hand, aber er setzte mich in einen Käfig, in eine Tretmühle. Das ist etwas Grauenhaftes. Man läuft und läuft und kommt nicht weiter und wird obendrein ausgelacht!
Des Kerkermeisters Enkelin war ein liebes kleines Ding, mit goldblondem Lockenhaar, fröhlichen Augen und einem lachenden Mund. "Armes kleines Mäuschen" sagte sie, guckte in meinen häßlichen Käfig hinein, schob den eisernen Riegel zurück- und ich sprang hinab auf das Fensterbrett und in die Dachrinne hinaus. Frei, frei! Daran allein dachte ich, und nicht an meinen Reisezweck.
Es war dunkel, und es ging auf die Nacht zu. In einem alten Turm nahm ich Herberge; dort wohnte ein Wächter und eine Eule. Ich traute keinem von ihnen über den Weg, am wenigsten der Eule. Sie gleicht einer Katze und hat den großen Fehler, daß sie Mäuse frißt. Doch man kann sich irren, und das tat ich. Es war eine respektable, überaus gebildete alte Eule, sie wußte mehr als der Wächter und ebensoviel wie ich. Die jungen Eulen machten um jede Kleinigkeit ein großes Geschrei. "Kocht keine Suppe aus einem Wurstspeiler" sagte sie, das war das Härteste, was sie ihnen sagen konnte, sie hatte soviel Gefühl für ihre eigene Familie. Ich faßte ein solches Vertrauen zu ihr, daß ich von der Spalte aus, wo ich saß, Piep sagte. Dies Zutrauen gefiel ihr, und sie versicherte mir, daß ich jetzt unter ihrem Schutze stände. Kein Tier dürfe mir ein Leides tun, das wolle sie selbst im Winter tun, wenn es mit der Kost knapp würde.
Sie war in allen Dingen gleich beschlagen; sie bewies mir, daß der Wächter ohne Horn nicht tuten könne, er bilde sich schrecklich viel darauf ein und glaube, er sei Eule im Turm! Etwas Großes solle es sein und sei doch nur etwas ganz Geringes, Suppe aus einem Wurstspeiler! Ich bat sie um das Rezept, und darauf erklärte sie mir folgendes: Suppe aus einem Wurstspeiler sei nur eine menschliche Redensart, der verschiedener Sinn untergelegt werden könne. Jeder glaube, seine Auslegung sei die rechte. Doch sei das Ganze eigentlich nichts!
Nichts? fragte ich; ich war tief betroffen. Die Wahrheit ist nicht immer angenehm, aber sie ist das Höchste, das sagte auch die alte Eule, Ich dachte darüber nach und sah ein, wenn ich das Höchste brächte, so brächte ich weit mehr, als die Suppe aus einem Wurstspeiler. Und so eilte ich davon, um noch rechtzeitig nachhause zu kommen und das Höchste und Beste hierher zu bringen: die Wahrheit! Die Mäuse sind ein aufgeklärtes Volk und der König ist es vor ihnen allen. Er ist imstande, mich um der Wahrheit willen zur Königin zu machen!"
"Deine Wahrheit ist Lüge!" sagte das Mäuschen, das noch keine Erlaubnis zum sprechen bekommen hatte. "Ich kann die Suppe bereiten und werde es tun!"
Wie es gemacht wird.
"Ich bin nicht gereist," sagte die vierte Maus, "ich blieb im Lande, das ist das einzig Richtige! Man braucht nicht zu reisen, man kann ebenso gut alles hier bekommen. Ich blieb! Ich habe meine Weisheit nicht von übernatürlichen Wesen bekommen, habe sie auch nicht gefressen oder habe mit Eulen gesprochen. Ich habe es durch eigenes Denken erreicht. Wollen Sie jetzt den Kessel aufsetzen und mit Wasser füllen, ganz bis zum Rand! Machen Sie Feuer darunter! So, und nun lassen Sie das Wasser kochen, bis es brodelt. Nun werfen Sie den Speiler hinein! Darauf wollen Seine Majestät der Mäusekönig allerhöchst seinen Schwanz in das kochende Wasser tauchen und damit umrühren! Je länger er rührt, umso kräftiger wird die Suppe. Das kostet nichts, und man braucht keine Zutaten, nur umrühren!"
"Kann es nicht ein anderer tun?" fragte der Mäusekönig.
"Nein!" sagte die Maus, "die Kraft ist nur im Schwanze des Mäusekönigs!"
Und das Wasser brodelte und der Mäusekönig stellte sich daneben, es war ein ganz gefährlicher
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