Andreas Steinhofel
Anfang.«
»Phil…«
»Schon gut, okay.« Mein Kopf ist wie vernagelt. Ich überlege
angestrengt. »Wie war er?«
Glass zögert. Lange Zeit fällt kein Wort. So lange, dass ich
schon versucht bin, dieses dumme Spiel abzubrechen, kaum
dass es begonnen hat. Dann höre ich Glass tief einatmen.
»Er war wunderbar, Phil. Er war der wunderbarste Mann, den
man sich vorstellen kann. Der beste.«
Die Worte treffen mich wie gemeine Schläge. Vor meinen
Augen blitzen goldene und blutrote Sterne. »Wenn er so
wunderbar war, warum hat er dich dann sitzen gelassen?«
»Das hat er nicht«, kommt es aus dem Dunkel. »Dazu hat er
mich zu sehr geliebt.«
Meine Wut verklingt, kaum dass sie aufgeflackert ist. Und erst
jetzt dämmert mir, dass ich einmal mehr Geister beschworen
habe, die ich besser nicht geweckt hätte. Ich erinnere mich an
das Brodeln dunkler Luft in jener weit zurückliegenden Nacht,
die der Schlacht am Großen Auge folgte. Damals, noch bevor
Dianne gestand, sie habe am Fluss mit ihrem Pfeil auf das Herz
des Brockens gezielt, hatte ich bereits gefühlt, dass sie etwas
sagen würde, das ich nicht hören wollte. Jetzt geht es mir
genauso. Wieder ist die Luft dunkel, doch anstelle von Diannes
Flüstern ist hier nur der Geruch alter Bücher und die
unerbittliche Stimme meiner Mutter.
»Er war so sanft«, höre ich sie sagen. »Wenn er eine Blume
berührte, begann sie kurz darauf zu blühen, das schwöre ich dir,
Phil. Ich habe es gesehen. Einmal besuchten wir einen Zirkus.
Wir gingen an den Käfigen mit den Raubkatzen vorbei, und die
Tiere, die eben noch gebrüllt hatten und auf und ab gelaufen
waren, legten sich ganz ruhig hin, kaum dass wir in ihre Nahe
kamen. Dein Vater griff durch die Gitterstäbe und streichelte
den Kopf eines Löwen. Er hatte keine Angst.«
Meine Brust ist zu eng für mein jagendes Herz.
»Dianne war genau wie er«, sagt die Dunkelheit. »Genauso
sensibel. Als sie klein war, konnte sie hören, wie die Welt
atmet, genau wie euer Vater. Deshalb hielt ich sie für genauso
verletzlich. Deshalb wollte ich sie schützen.«
Meine Hände schließen sich noch fester um das Buch, so fest,
dass meine Fingernägel sich tief in den Einband graben. »Wie
ging es weiter?«, flüstere ich.
»Ich wurde schwanger. Von diesem Moment an hat euer Vater
mich nicht nur geliebt, er hat mich vergöttert. Er freute sich wie
ein kleines Kind und plante unsere Zukunft. Er wollte mich
heiraten. Er wollte uns ein Haus bauen. Und all das hätte er
getan.«
»Was ist passiert?«
»Er hatte einen Freund, einen besten Freund. Gordon machte
mir den Hof, und ich war so verrückt nach ihm, dass ich mich
wie betrunken fühlte, wenn ich nur daran dachte, dass er mich
anfasst. Ich konnte nicht genug Liebe bekommen, egal von
wem. Ich war so verdammt dankbar dafür, dass mir beim bloßen
Gedanken daran jetzt noch schlecht wird. Ich hätte jeden Mann
genommen. Später habe ich das dann auch ausreichend getan.«
Glass lacht auf, ein kleines, bitteres Geräusch. Ich senke den
Kopf. Das Parkett zu meinen Füßen schimmert. Früher haben
Dianne und ich hier Himmel und Hölle gespielt. Irgendwo in
den Ritzen zwischen den einzelnen Dielen und Bohlen lagert
uralter, weißer Kreidestaub. Ich erinnere mich daran, wie der
trockene Staub aufleuchtete und glänzte, wenn er im
aufgefächerten Licht der Gottesfinger träge durch die Luft
schwebte.
»Phil?«
»Ja?«
»Sieh mich an.«
Ich hebe den Kopf. Glass hat sich nach vorn gebeugt. Ihr
Gesicht gleicht einer geisterhaften Maske. Die Lippen sind
dünne, schwarze Striche.
»Ich habe mich wie eine Hure benommen.«
»Nicht, Mum. Bitte…«
»Dein Vater hat uns erwischt. Seine schwangere Freundin, im
Bett mit seinem besten Freund. Danach konnte ich ihm nicht
mehr in die Augen sehen.« Glass lächelt schwach. In ihren
Pupillen tanzen winzige Lichtpunkte. »Wenigstens bei dir will
ich das können.«
»Mum, so etwas darfst du nicht sagen.« Mein ganzer Körper
fühlt sich an wie gelahmt. »Es stimmt einfach nicht.«
»Ich weiß. Aber ich habe es jahrelang geglaubt. Und einmal
wollte ich es wenigstens aussprechen.« Glass lehnt sich wieder
zurück, in den Schutz der Schatten. »Wie auch immer, ich
entschied mich zu gehen. Erst wusste ich nicht, wohin;
schließlich dachte ich an Stella. Dein Vater hat… er hat mich auf
den Knien angefleht, ihn nicht zu verlassen. Er hat die Finger in
den Boden geschlagen und sie sich blutig gekratzt. Mein Gott,
er hat sich
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