Andreas Steinhofel
Alles ist gesagt, die Audienz beendet. Als
ich wieder aufblicke, hat Glass sich aus dem Thron erhoben. Sie
geht zur Tür, sehr aufrecht, und öffnet sie. Aus dem Flur fällt
Licht in die Bibliothek.
Ich sehe Glass an, und ich kann nicht anders: Ich muss
grinsen.
Sie schaut verständnislos an sich herab, dann stützt sie eine
Hand in die Hüfte. »Was ist los?«
»Mum, wie… wie hast du mir all das sagen können, während
wir beide diese dämlichen Papphütchen trugen?«
Glass fasst unter ihr Kinn. Sie zieht das goldene Hütchen ab,
und noch während sie es verwundert betrachtet wie einen
Fremdkörper, wie einen kleinen Außerirdischen, der ihren Kopf
als Notlandeplatz erkoren hat, brechen wir beide in lautes
Lachen aus. Dem Lachen folgen Tränen, den Tränen folgt
Ernüchterung. Nichts scheint sich verändert zu haben, und doch
ist alles anders als zuvor. Meine Knie sind weich. Nichts ist
einfach.
»Ach, und das hier«, schnieft Glass, »sollte ich wohl nicht
vergessen.« Sie zieht einen Umschlag aus der Hosentasche und
hält ihn mir entgegen. »Ein glückliches neues Jahr, Darling!«
Ich öffne den Umschlag, sehe hinein und schnappe nach Luft.
»Du bist wahnsinnig, Glass! Woher hast du…?«
Ich stürme an ihr vorbei in die Küche. Der Tisch steht noch
immer im Kaminzimmer, aus dem das Lachen der anderen
dringt. Mit schnellen Blicken suche ich Regale und Borde ab.
»Sie ist tot«, sagt Glass. Sie steht in der Küchentür und lässt
das goldene Hütchen an seinem Gummiband um ihren
Zeigefinger rotieren.
»Du hast Rosella geschlachtet?«
»Oh, es ging ganz schnell«, erwidert Glass. »Ich kann dir
versichern, dass sie nicht gelitten hat.«
»Ich kann das Geld nicht annehmen! Es gehört dir.«
»Bilde dir nur nichts ein, Darling.« Glass setzt sich das
Hütchen zurück auf den Kopf. »Ich bin schließlich nicht die
Wohlfahrt. Das Geld ist gedrittelt, ein Teil für mich, ein Teil für
Dianne, einer für dich.«
»Mum…«
»Ein Nein lasse ich nicht durchgehen, verstanden?« Ihre
Stimme ist zu einem Flüstern herabgesunken. »Ich bin damals
mit nichts gekommen, Phil. Nur mit euch, mit einem kleinen
Koffer und mit jeder Menge verdammter Angst.«
Jetzt erst löst sich die Anspannung, die mich bisher aufrecht
gehalten hat. Ich habe das Gefühl zu schwanken und befürchte,
im nächsten Augenblick zu stürzen. Glass hat mir mit ihrer
Geschichte über Nummer Drei den Boden unter den Füßen
fortgerissen. Ich weiß nicht, wohin mit meiner Verwirrung, mit
der Enttäuschung, die, wenigstens im Moment noch, größer ist
als das zögernd aufkommende Verständnis für meine Mutter.
Ich weiß nur, dass es gut ist, mit Gable zu gehen, Abstand von
Visible zu gewinnen und von meinem Leben, das mir an allen
Ecken und Enden nur noch wie Stückwerk erscheint und über
das ich langsam den Überblick verliere.
»Komm her«, sagt Glass. Sie schließt mich in die Arme und
hält mich fest. Eine Weile stehen wir so, eng umschlungen wie
ein Liebespaar, aneinander geklammert wie kleine Kinder, die
sich vor der Dunkelheit fürchten. »Versprich mir, dass du auf
dich aufpasst, Darling.«
»Cross my heart and -«
»Pssst, sag das nicht.« Glass löst unsere Umarmung, legt mir
ihre Hände auf die Schultern und sieht mich intensiv an. »Ich
hab dich angelogen. Ich kann mich gut an ihn erinnern. Dianne
hat seine Haare, aber du hast seine Augen. Und seinen Mund.«
»Hatte ich auch seine Ohren?«
»Nein, selbstverständlich nicht.« Sie rümpft die Nase. »Solche
Ohren hatte nur Dumbo. Und der sah damit bedeutend besser
aus als du.«
Um ihre Mundwinkel erscheinen winzige Grübchen. Ich
warte. Langsam beugt Glass sich vor. Sie stellt sich auf die
Zehenspitzen. Ich schließe die Augen und warte auf ihren
Abschiedskuss. Dann spüre ich ihre Lippen dicht neben meinem
Ohr, fühle, wie sie sich öffnen und schließen.
Sie flüstern seinen Namen.
DIE LETZTE MINUTE des alten Jahres bricht an. Wir
stürmen alle nach draußen und versammeln uns auf der
Veranda, wo wir laut die verbleibenden Sekunden rückwärts
zählen. Dann erschüttert das klingende Dröhnen der
Kirchenglocken die Luft, erste Raketen steigen nach oben in
den sternenklaren Nachthimmel und zerplatzen,
regenbogenfarbene Fontänen stürzen der Erde entgegen. Wir
fallen einander jubelnd in die Arme. Korken ploppen, Sekt
sprudelt aus eiskalten Flaschen, Gläser werden klirrend
gegeneinander gestoßen. Glass stimmt die ersten Takte von
Should
Weitere Kostenlose Bücher