Andreas Steinhofel
er in Amerika lebt«, bohrt sie
weiter.
»Amerika ist groß«, sage ich gereizt. »Und dass er noch lebt,
ist nur eine Vermutung. Also jetzt tu mir einen Gefallen und
halt endlich die Klappe, okay?«
»Okay. Friede.« Die Mooskugel wird entschlossen
weggeschnippt, sie trudelt auf der warmen Luft nach unten und
landet am Fuß der Schlossmauer zwischen den
Brennnesselbüschen. Ich erhalte eine versöhnliche
Großaufnahme der Zahnlücke. »Vanilleeis?«
IM SOMMER VOR MEINER EINSCHULUNG beschloss
Glass, dass etwas mit meinen Ohren geschehen müsse.
»Sie sind zu groß, Phil«, erklärte sie. »Und sie stehen ab. Du
siehst aus wie Dumbo.«
Wir saßen auf einer Steppdecke am Flussufer, von hoch
gewachsenem, rosarotem Springkraut vor der Nachmittagssonne
geschützt, weitab von der Stadt, weitab von ihren Bewohnern.
Meine Mutter griff in eine mit Getränken und klebrigen
Erdnussbutter-Sandwiches gefüllte Kühlbox, holte eine Flasche
Cola heraus und setzte sie an die Lippen. Sobald sie die Flasche
wieder absetzte, würde es kein Entrinnen mehr geben.
Dass ihr meine Ohren nicht gefielen, erfüllte mich mit
Unbehagen. Ich sah zu Dianne hinüber, die bis zu den Knien im
träge dahinströmenden Wasser stand, wo sie die Unterseiten
flacher Steine nach Schnecken absuchte. Niemand hätte uns für
Zwillinge gehalten. Schon deshalb nicht, wie ich jetzt dachte,
weil Dianne gänzlich unauffällige Ohren besaß.
»Wer ist Dumbo?«, fragte ich vorsichtig.
»Ein Elefant.« Glass stellte die Cola zurück in die Kühlbox.
»Seine Ohren schleiften über den Boden, beim Laufen ist er
ständig darüber gestolpert. Sie waren einfach zu groß.«
Dianne kletterte aus dem Fluss, sprang geschickt über ein paar
Steine, schlug sich durch hüfthohes Gras und hielt Glass im
nächsten Moment wortlos einen Stein unter die Nase, an dem
ein besonders hübsches, rundes Schneckenhaus klebte.
»O Gott, bring das weg!«, rief Glass angeekelt. »Ich kann
dieses glitschige Zeug nicht ausstehen!«
Sie legte sich zurück, schloss die Augen und sah deshalb auch
nicht, wie sich Dianne, bevor sie zurück ins Wasser marschierte
um dort nach neuen Glitschigkeiten zu suchen, die Schnecke
versuchshalber in ihr linkes Ohr steckte. In ihr nicht
abstehendes linkes Ohr von normaler Größe, wie ich neidisch
bemerkte.
Ich blieb auf der Decke sitzen, im Bann schrecklichster
Vorahnungen. Ich erwartete, dass Glass das Thema erneut
aufgriff – dass sie mir erklärte, was mit zu großen und
abstehenden Ohren gemacht wurde, damit diese nicht über den
Boden schleiften -, aber sie war eingeschlafen, und da sie auch
auf dem Nachhauseweg nicht wieder darauf zu sprechen kam,
betrachtete ich, wenn auch zögernd, die Angelegenheit
schließlich als erledigt.
Der frühe Abend verging mit dem erfolglosen Versuch, die
unglückliche Flussschnecke aus Diannes Ohr zu entfernen.
Glass fuhrwerkte mit dem Inhalt von drei Küchenschubladen in
Diannes Gehörgang herum, mit dem wenig überraschenden,
aber schmerzhaften Resultat, dass der Fremdkörper irgendwann
gegen das Trommelfell drückte. Schließlich murmelte sie etwas
von der eustachischen Röhre, und ich wusste nicht, was ich
mehr bewundern sollte – dass meine Mutter ein so
kompliziertes Wort aussprechen konnte, oder dass sie ohne mit
der Wimper zu zucken ihre Lippen um Diannes Nase schloss
und so kräftig hineinpustete, dass ich tatsächlich erwartete, die
Schnecke wie ein Schnellfeuergeschoss aus dem Ohr und durch
die Küche fliegen zu sehen. Als auch das nicht half, schob Glass
uns fluchend ins Auto und fuhr mit uns in das städtische
Krankenhaus, wo ein geduldiger junger Notarzt mit Hilfe
mehrerer Spülungen und einer feinen Pinzette das Unglück
behob.
»Ich heiße Clemens«, sagte er zu Dianne. »Und du?«
Dianne gab keine Antwort.
Der Arzt lachte. Ich beobachtete, wie seine sonderbar rosigen
Hände mit der Pinzette hantierten. Seine Fingernägel waren
ganz kurz geschnitten.
Die Schnecke war selbstverständlich tot, doch ihr schmutzig
braunes Gehäuse hatte, wie durch ein Wunder, den Eingriff
völlig unbeschadet überstanden. Als wir wieder im Auto saßen,
ließ Dianne das Schneckenhaus über ihre geöffnete Handfläche
rollen. »Darf ich es behalten?«, fragte sie.
»Du kannst es dir von mir aus… ach, Scheiße, von mir aus
behalt es«, gab Glass zurück.
Es krachte, ein Ruck ging durch den Wagen, als sie in den
falschen Gang schaltete. Ich wusste, dass sie wütend war,
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