Angélique - Die junge Marquise - Golon, A: Angélique - Die junge Marquise - Angélique 01. Marquise des Anges
versetzte Angélique scharf. »Niemand hat je behauptet, er würde kleine Kinder fressen.«
»Er lockt Frauen mit seltsamen Zaubern zu sich«, flüsterte die Amme. »In seinem Palast werden Orgien gefeiert. Anscheinend hat ihn der Erzbischof von Toulouse öffentlich von der Kanzel herab verdammt und behauptet, bei ihm habe der Teufel seine Finger im Spiel. Dieser Heide von einem Knecht, der mir gestern in meiner Küche davon erzählte, hat dabei gelacht wie ein Irrer. Außerdem hat er noch gesagt, dass der Graf de Peyrac nach dieser Predigt seinen Leuten befohlen habe, die Pagen und Träger des Erzbischofs zu verprügeln. Bis in die Kathedrale hinein sollen sie gekämpft haben. Glaubst du etwa, hier bei uns würde man so ein schändliches Verhalten erleben? Und woher hat er denn das ganze Gold? Seine Eltern haben ihm nur Schulden und mit Hypotheken belastete Ländereien hinterlassen. Außerdem hofiert er weder den König noch die Prinzen.
Als Monsieur d’Orléans, der auch der Gouverneur des Languedoc ist, Toulouse besucht hat, soll der Graf sich geweigert haben, vor ihm das Knie zu beugen, weil ihn das angeblich zu sehr anstrengen würde, und als Monsieur, ohne wütend zu werden, anmerkte, dass er an höchster Stelle bedeutende Wohltaten für ihn erwirken könne, hat der Graf de Peyrac geantwortet, dass...«
Fantine verstummte und steckte geschäftig ein paar Nadeln in den bereits perfekt sitzenden Rock.
»Was hat er da geantwortet?« »Dass... dass Monsieur ihm selbst mit seinem langen Arm nicht zu einem weniger kurzen Bein verhelfen könne. So eine Unverschämtheit!«
Angélique betrachtete sich in dem kleinen runden Spiegel aus ihrem Reisenecessaire und strich mit dem Finger ihre von Marguerite sorgfältig gezupften Augenbrauen glatt.
»Dann stimmt es also, dass er hinkt?«, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben.
»Ja, das stimmt. Leider! Mein armes Kleines! Ach, Jesus! Und du bist so schön!«
»Sei still, Nounou. Ich habe genug von deinem Geseufze. Ruf Margot, damit sie mich frisiert.«
Aber Fantine war noch nicht alle Neuigkeiten losgeworden, die sie in den letzten Tagen gesammelt hatte.
»Ich kann nicht anders«, entgegnete sie mit Nachdruck. »Ich muss dich warnen. Sie erzählen, ganz oben in seinem Palast gäbe es ein Zimmer, das niemand außer ihm betreten darf. Er hat eigens einen goldenen Schlüssel dafür schmieden lassen.«
»Und hinter dieser Tür liegen die Leichen seiner früheren Ehefrauen, die er umgebracht hat, genau wie in der Legende?«
»Wer weiß?«, seufzte Fantine traurig.
»Denk doch einmal nach! Graf de Peyrac war noch nie verheiratet. Ich werde seine erste Gemahlin sein.«
»Was weiß man denn schon...?!«
Fantine nickte mehrmals.
Alles, was aus dieser Richtung kam, erschien ihr wie von einem dichten Nebel verdeckt, dessen Schleier man niemals vollständig würde lüften können.
»Sie erzählen davon! Sie erzählen davon! Auf jeden Fall kennt dort jeder die Geschichte von dem großen Vogt, der edle Damen mit Hilfe eines mit ihm verbündeten Dämons umbrachte.«
Angélique, die sich bemühte, nur mit einem halben Ohr hinzuhören, schrie vor Schreck auf.
»Er …?«
»Nein! Aber einer seiner Vorfahren. Und das ist noch gar nicht so lange her...«
»Genug jetzt, Nounou«, rief Angélique zornig. »Genug! Es ist zu spät, um mich vor diesem schrecklichen Gerede zu warnen! Ruf Margot! Und sprich nicht mehr so über den Grafen
de Peyrac, wie du es gerade getan hast. Vergiss nicht, dass er bald mein Gemahl sein wird.«
Als es dunkel wurde, erleuchteten brennende Fackeln den Hof wie am helllichten Tag.
Auf der Freitreppe hatten sich die Musikanten aus dem Süden zusammengefunden und begleiteten mit schwungvollen Melodien die immer lauter anschwellenden Unterhaltungen.
Wie in einem bösen Traum hatte Angélique ihren Platz an der Seite des Marquis d’Andijos eingenommen. Obwohl sie sich immer wieder zur Ordnung rief, hatten die Worte der Amme, die sie in ihrer Kindheit als eine Art Orakel betrachtet hatte, sie erschüttert. Und jetzt war es geschehen! Sie war verheiratet! Natürlich war Fantine Lozier immer noch die Gleiche wie früher. Aus verschiedenen Versionen einer Geschichte würde sie stets die tragischste wählen. Aber die Gerüchte, von denen sie ihr erzählt hatte, passten zu den beunruhigenden Worten von Nicolas. Hinter diesen düsteren Visionen verblassten die besänftigenden, vernünftigen Worte des
Weitere Kostenlose Bücher