Angstblüte (German Edition)
Kannibalismus verstanden werden. Über die heute als stumm verschriene Tierwelt wird soviel bekannt geworden sein, daß es unmöglich sein wird, Wesen, die uns so nahe sind, einfach zu töten und sie dann auch noch zu essen.
Da Karl wußte, Helen werde, wenn es um Tiere ging, von sich aus nicht aufhören, mußte er mit beiden Händen über den schmalen Tisch hinübergreifen, Helen streicheln und sagen, daß er sie bewundere. Und stieß damit natürlich an den Joni-Satz: Du bist ein Bewunderer.
Helen sagte das nicht. Sie sagte: Freut mich.
Liebe Frau, sagte er, ich habe viel nachzuholen, könnte sein, ich übernachte heute droben bei mir.
Sie erschrak, ihr Gesicht wurde förmlich dunkel. Von innen her. Sie hatte offenbar mit allem rechnen können, nur nicht damit, daß ihr Mann, den sie nun mit Feinstem gespeist, subtil belehrt und massiv beeindruckt hatte, sich ihr jetzt einfach entzog. Karl sah und spürte ihren Schmerz. Helen wollte ihn hindern, Joni anzurufen. Ohne etwas zu wissen, ging es ihr nur darum. Daß er und wie er jetzt ging, erlebte er selber als Brutalität. Die konnte er weder sich noch Helen ersparen. Zum Glück, dachte er, weiß sie nicht, warum sie jetzt leidet.
5.
Hören Sie, die Dame ist momentan außer Haus. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?
Bitte teilen Sie mit, Herr von Kahn habe angerufen und wünsche eine gute Nacht.
Auf ihrem Handy wollte er sie nicht anrufen. Das hätte stören können. Nach einiger Zeit würde er direkt ihre Zimmernummer wählen.
Helen wußte, daß er manchmal die halbe Nacht arbeitete und dann lieber auf seinem Sofa schlief. Helen hatte einen leichter störbaren Schlaf als er. Er konnte, wo er sich hinlegte, schlafen. Helen nannte das seinen Bauernschlaf.
Zehn vorbei. Er wählte sechshundertneun direkt und ließ lange läuten, legte auf, nahm sich vor, zehn Minuten zu warten. Dann wählte er wieder. Daß das Telefon so lange wirkungslos läutete, war unangenehm. Sobald er auflegte, konnte er wieder durchatmen. Als er nach nicht ganz zehn Minuten wieder wählte und dann dem Läuten des Telefons zuhörte, war es, als sei dieses Nichtabnehmen in Zimmer sechshundertneun eine gegen ihn gerichtete Bosheit. Er legte diesmal früher auf. Wenn sie im Zimmer wäre, würde sie sich gleich oder gar nicht melden. Immer nur kurz läuten lassen und auflegen, bevor er kurzatmig wurde. Einen Fünf-Minuten-Rhythmus würde er die ganze Nacht lang durchhalten. Diese fünf Minuten sind allerdings mit nichts zu füllen, das merkte er schnell. Lesen ging nicht. Musik hören auch nicht. Auch durfte er nicht von Mal zu Mal eine größere, intensivere Erwartung zulassen. Das würde in eine immer krasser spürbare Enttäuschung münden. Diese kleine Kralle in deiner linken Seite will als Schmerz bemerkt werden. Bitte, dann bemerkst du eben diese kleine Kralle als Schmerz. Dieser Schmerz ist eine Wiederholung von sehr wenig. Er ist bei jedem Anruf dasselbe noch einmal. Er nimmt nicht zu. Und weil es jetzt Viertel vor elf ist, mußt du dir nicht einbilden, du dürfest, wenn sie nicht abnimmt, enttäuschter sein, als wenn es Viertel nach neun wäre. Als wäre um Viertel nach neun nicht genausoviel möglich wie um Viertel vor elf. Lernen, was passiert, als Befreiung erleben. Bitte, nichts Hochtrabendes. Keine großen Gesten oder Wörter. Sogar weinen wäre möglich. Traurig sein. Das wäre man auch ohne diesen Verlauf. Sie dort, du hier, das darf traurig stimmen. Jetzt perfektioniert sie die Traurigkeit durch Unerreichbarkeit. Nachher wird sie die abgelaufene Leere mit Berufsdetails füllen. Du wirst wieder alles genau, zu genau wissen wollen. Du willst, selbst wenn es Lüge ist, die Lüge als Filigran, als Feinstgewebe.
Sie hat alles im voraus gewußt. Du kannst mich ruhig anrufen, hat sie gesagt, sie rufe dann zurück. Sie kenne einen auftretenden Musiker, hat sie, ohne jeden Zusammenhang, gesagt, der könne auf der Geige das Platzen eines Kondoms imitieren. Karl liebte das Nachgemachte. Zum Glück hatte er sie auf dem Rückweg von Andechs unter die Brücke bugsiert. Ohne diesen keineswegs rühmlichen Geschlechtsverkehr sähe die Bilanz nicht gut aus. Es würde genügen zu wissen, wo sie jetzt ist. Jetzt, das ist zehn vor elf.
Er rief wieder an. Warum denn nicht länger läuten lassen? Als er ihr angekündigt hatte, er werde, wenn es ihr recht sei, doch dann und wann anrufen, hatte sie sofort gesagt, wenn sie mit ihrer Schwester telefoniere, könne ohne weiteres eine Stunde lang
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