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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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besetzt sein. Seit Angela allein lebe, müsse sie von ihr praktisch ernährt werden, seelisch! Wenn sie nicht abnehme, föhne sie sich oder sei unter der Dusche. Duschen und Föhnen habe bei ihr Suchtcharakter. Karl von Kahn war froh gewesen, daß eventuelle Unerreichbarkeit harmlos begründet sein würde. Jetzt war nicht besetzt, Duschen und Föhnen kamen um diese Zeit nicht in Frage, sie war gar nicht im Haus, morgen wird sie ihm sagen, wo sie war, Textarbeit. Sich hineinleben in dieses von der Herrin des Hauses gequälte Dienstmädchen. Keine Feindschaftsnummer wolle sie abziehen, hatte Joni gesagt. Sie wolle mit der Herrin leiden unter diesem Mann, der draußen so übel dran war, daß er glaubte, als angeblich betrogener Ehemann eine Sympathie zu ernten, die ihm geschäftlich nützen könnte.
    Er wußte nicht, wie er sich daran hindern sollte, an Joni zu denken. Das Abstraktwerden der Sehnsucht nach dem, was man Geschlechtsverkehr nannte, hatte nicht stattgefunden. Er konnte nicht an Joni denken, ohne bei ihr sein zu wollen. Und er wußte nicht, wie er das machen sollte, nicht an Joni zu denken. Er könnte allerdings von sich den Nachweis verlangen, daß es das, wonach er sich sehne, gar nicht gibt. Das müßte sich beweisen lassen. Und ihm wäre geholfen. Und indem er das denkt, schwillt auf dieses Gefühl der Angewiesenheit, dieser Richtungszwang, das, was er doch Sehnsucht nennen muß. Die ist unbelehrbar. Dir fehlt Joni. Fehlte sie nicht, fehlte dir nichts. Damit gibst du zu, daß sie dir alles ist. Du spürst gerade noch, daß du mehr riskierst, als du je riskiert hast. Bisher konntest du, falls sich das Risiko zu kraß anfühlte, immer zurückschrecken oder zurücklenken, hinaus aus dem Minenfeld. Im Chinesischen dasselbe Wort für Risiko und Chance. Je deutlicher die Verbote erscheinen, um so deutlicher weißt du, daß du dir nichts verbieten lassen kannst. Ein einziger gelungener Anruf, ihre Stimme meldete sich, nur die Stimme, kein Name, nur dieses gedehnte, zweisilbige, dann nach oben gebogene Jaa-a, und du spürtest in deinem Geschlechtsteil diesen Wärmeschwall. Das nennt man wohl Hörigkeit. Er hat nie gewußt, was dieses Wort soll. Jetzt weiß er es. Fünf vor elf. Bis jetzt hatte er vermeiden können, schon nach vier Minuten wieder anzurufen. Er mußte sich eine Art Kraft beweisen. Er mußte sich sagen: Volle fünf Minuten sind vorbei, ich kann wieder anrufen. Und tat’s. Hörte dem Läuten zu wie einem Text. Der Text ging gegen ihn. Den brauchte er sich nicht anzuhören. Und hörte doch viel zu lange zu. Andererseits durfte er sich nicht einreden, er müsse sich ablenken. Selbständigkeit. Unabhängigkeit. Seine Wörter. Seine Paläste. Seine Illusionen. Sturzgeräusche. Atemlosigkeit. Schwarzes Schleudern. So nicht. Er reckte sich, ging schnell auf und ab unter seinen schrägen Flächen, sah nicht hinauf zu den Astaugen. Er wußte, die würden jetzt böse herabschauen auf ihn. Er mußte seine Wörter, seine Illusionen in einen unbefristeten Urlaub schicken. Der höchste menschenmögliche Zustand: Unabhängigkeit. Zuerst Selbständigkeit, dann Unabhängigkeit. Bevor er die Wörter entfernte, sagte er noch, daß er jetzt wisse, es sei immer eine Unabhängigkeit gemeint gewesen, in der eine Joni und er Platz hätten. Lächerlicher konnte er sich nicht vorkommen als bei solchen Begriffsdrechseleien. Stell dich deinem Wörterzirkus. Panikverkauf, was! Unabhängigkeit – ein Scheinwert? Ein Unwert? Schnell memoriert: Geld vermehren nicht wegen Freiheit und so weiter. Geld vermehren nicht, um Macht zu haben über andere. Geld vermehren, daß kein anderer Macht hat über dich. Nie vergessen wirst du den Tag: Soros im Fernsehen, 11. Januar 1994, Soros sagt, Geld, um unabhängiger zu sein als andere, andere sind von mir abhängig, das ist Macht. Und Karl war glücklich. Im Gegensatz zum großen Soros wollte er nicht unabhängiger sein als andere, damit andere von ihm abhängig seien. Dieser Komparativ kam bei ihm nicht vor. Nur selber unabhängig sein, das ist es. Aus Mißtrauensroutine hatte er sich eine Zeit lang befohlen, Unabhängigkeit nicht endgültig und überhaupt als das Ziel aller Ziele zu sehen. Ein Erkenntnisstadium, dem andere Stadien folgen könnten. Er hatte sich sogar den Erkenntnisgenuß verbieten wollen. Er hatte sich darauf hingewiesen, daß das doch jedesmal so ging: zuerst der Genuß, ein So-ist-es-überhaupt-Gefühl erkannt und empfunden zu haben. Geld vermehren als

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