Angstblüte (German Edition)
er japste, schnappte nach Luft, atmete wieder. Noch lange, sehr lange saß er aufrecht, wagte nicht mehr, sich hinzulegen. Er durfte nicht einschlafen. Er wollte nicht noch einmal ersticken. Links ein Stich. Die Zunge blieb gegen die Mundhöhle gepreßt, ließ sich nicht mehr lockern. Weil er sich oft als sein eigenes Gegenüber sah, mußte er jetzt im gewöhnlichen Konversationston sagen: Herz, stich nicht so, als wären wir in einem Kartenspiel. Und hoffte, Herr Strabanzer werde das als reinseidenen Kalauer akzeptieren.
Dann, es war schon neun, rief sie an. Zuerst ihr zweisilbiges, provozierend hoch endendes Ja. Dann sagte sie: Sei zufrieden mit mir.
Also sagte er: Ich bin zufrieden mit dir.
Und sie: Ich bin nicht zufrieden mit mir.
Er: Ich bin zufrieden mit dir.
Danke, sagte sie. Sie könne es brauchen. Sie habe echt eine Matschbirne. Der erste Tag sei schweineanstrengend gewesen, sie hätten geschuftet wie blöde, dann sei doch noch alles gutgegangen zwar, aber deshalb sei es unvermeidlich, daß der zweite Tag mies werde. Es sei nur noch die Frage, wie mies. Gestern mit Waltraud Walterspiel und Laura Broch, eine beängstigende Harmonie. Waltraud, die man nur Vorabendserien machen läßt, und Laura, die nur in Vorabendserien spielen darf, haben gestern mit ihr ein ätzendes Konzept für Liebe nicht ausgeschlossen entwickelt. Waltraud, die Resischörin, Benedikt läßt grüßen, ist eine Riesen-Rabenfrau. Und Laura, die die Hausherrin gibt, ist eine Edel-Elster. Und sie selbst ein Spatz-Spatz. Bis heute nacht um drei haben sie ihr Konzept-Komplott geschmiedet, das sie heute durchsetzen müssen gegen die Produktion und gegen Bert Breithaupt, der den leidenden Mann gibt, nach dem sich alles zu richten hat. Ob Nervensäge noch zuhöre.
Und wie, sagte er.
Du hast einen Ständer, sagte sie.
Stimmt, sagte er.
Dann bin ich schon zufrieden mit mir, sagte sie.
Ich bin zufrieden mit dir, sagte er.
Das ist gut, sagte sie. Jetzt müsse sie aber raus und rasen von hier bis Babelsberg. Adieu, mein Schatz.
Adieu, meine …
Da hatte sie schon aufgelegt. Er konnte nicht mehr sagen, was er wirklich sagen wollte: daß das mit dem Ständer höchstens eine Halbwahrheit war.
Das früchtereiche Frühstück stand auf dem Tisch. Helen saß schon am Computer. Aber sie kam herüber und fragte, was er geträumt habe.
Er zögerte.
Sie drängte. Zwischen ihm und ihr dürfe das Verschwiegene nicht wachsen.
Von ihr habe er geträumt. Ihr entgegengesehen habe er. Freudig. Weil er gewußt habe, wie schön sie sei. Dann, sagte er, tauchte sie deutlicher auf. Ohne daß er sich bewegte, kam sie näher. Eine Art Zoom-Effekt. Nicht ganz in Reichweite hörte die Annäherung auf. Jetzt sah er, was er sehen sollte. Ihre beiden Augen wurden, je näher sie kam, um so verschiedener. Ihr rechtes Auge wurde immer blasser, das linke immer dunkler. Beide behielten den Blauton, aber das eine war fast farblos blau, das andere grellblau. Von beiden Augen fühlte er sich angeschaut. Starr angeschaut. Das war kaum auszuhalten. Er rannte dann wohl weg. Irgendwie.
Helen sagte, seine Träume seien immer so deutlich. Wenn Freud solche Träume gehabt hätte, hätte er sich seine Traumtheorie ersparen können.
Ich, sagte Karl, möchte diesem Traum nicht zu nahe treten.
Da tust du gut daran, sagte sie.
Ich bewundere dich, sagte er.
Freut mich, sagte sie.
Sie verabschiedeten sich.
Auf dem Weg zum Nordfriedhof stellte sich in ihm eine Art Zufriedenheit her mit Jonis und Helens Antwort auf seinen Satz: Ich bewundere dich. Er hatte diesen Satz zu Joni und zu Helen sagen können. Joni und Helen fanden es sehr angenehm, von ihm bewundert zu werden. Keine der beiden hat geantwortet: Ich dich auch. Und genau das war ihm recht. Beide waren bewundernswert. Er war es nicht. Daß das so herausgekommen war, sprach für die Wahrnehmungsqualität, die zwischen ihnen herrschte. Das ließ ihn sich zufrieden fühlen. Schrecklich, wenn eine gesagt hätte: Ich dich auch. Das wäre zum Davonlaufen gewesen. Aber so war alles gut.
6.
Eine Gesellschafterversammlung war für Karl von Kahn, was für einen Labor-Biologen der Ausflug auf die grüne Wiese ist. All den Blumen, den Farben und Stofflichkeiten, mit denen er sonst nur im Mikrobereich umgeht, begegnet er hier leibhaftig. Dieses Naturerlebnis vermitteln allerdings nur die Anleger. Die Anlageberater, die Finanzdienstleister, also die Karl von Kahns, tragen Krawatten. So war es auch im Méridien . Die krawattenlose
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