Angstblüte (German Edition)
ihn will. Wenn sie ihn überhaupt will. Immerhin hat sie nachher im Bett geweint. Die Tränen getrocknet mit diesem Nichts von Schlüpfer.
In dieser Nacht lernt er, was er schon längst hätte lernen müssen: die reine Lüge. Die Lüge unter allen Umständen. Die allein hilfreiche Lüge. Schluß mit dem mühseligen, nie ganz gelingenden Vertuschen der Wahrheit. Schluß mit dem Jammer der Halbwahrheiten.
Irrsinn. Ein Feldherr ertüftelt die ultimative Strategie auf dem Schlachtfeld, auf dem er gerade den Krieg ein für allemal verloren hat. Du wirst keine Gelegenheit haben, als der große Lügentenor aufzutreten. Sie schmust nämlich gerade jetzt mit wem auch immer in der Bar. Sie schmusen und lecken sich vorwärts, bis sie aufstehen und eher schwebend als gehend ihr Zimmer erreichen.
Was dann abgeht, weiß er.
Wenn Helen auf dem seitlich vom Haus gelegenen Vorplatz die Blätter zusammengekehrt hat, kehrt sie am Schluß alles, was sie gehäuft hat, auf eine große breite Schaufel, die sie dann in die Tonne für natürlichen Abfall leert. So etwas brauchte er jetzt. Bloß müßte die Tonne, in die er seinen Kehricht leert, eine Tonne für Psychoschrott sein. Entsorgen. Und zwar sofort. Er hat Glück gehabt: das hat er jetzt geschnallt. Deine Liebe, die kannst du dir an die Glatze nageln. Die geht ihr am Arsch vorbei. Das ist echt ätzend. Durchgeknallt, das war einmal. Entsorgen ist auch nicht schlecht. Umweltschonend. Du mußt nicht so weit gehen, dir stundenlang vorzustellen, was sie jetzt gerade tut und sagt. Das ist kontraproduktiv. Du mußt eine riesige Decke über alles werfen. Eine tannengrüne Decke. Überhaupt Tannengrün über alles. Tannenzweige. So wie die Gräber im Winter, daß sie nicht frieren, mit Reisig zugedeckt werden. So die ganze Welt. Bis zu jedem Horizont. Und hingeschaut über diese dunkelgrüne, angenehm unglatte Unendlichkeit, hingeschaut, bis nichts Denkbares mehr bleibt. Du hast Glück gehabt. Das hätte furchtbar werden können. Alleinsein, das ist gelernt. Du brauchst keinen mehr und keine mehr. Nichts erlebst du, sobald du zwischen den Latschen bist, deutlicher als diese Fähigkeit, allein zu sein. Das fühlt sich an wie Glück. Ein Glück, das du, solange du noch andere brauchtest, nie empfunden hast. Auch der feinste Kontakt verlangte, um zu gelingen, einen Verzicht auf etwas, und genau dieser Verzicht hat den Kontakt wertlos gemacht. Die WG mit Helen ist die beste aller denkbaren Zweckgemeinschaften. Ist es eine Anmaßung, dich allein zu fühlen? Du weißt nicht, willst nicht wissen, wer außer dir noch allein ist. Du willst keinem dreinreden, etwa sagen, jeder sei allein. Dann hättest du ja wieder reichlich Gesellschaft. Über das Alleinsein kann jeder nur für sich sprechen.
Er holte aus der Schublade Ereweins Papiere, Bericht und Brief. Er suchte die Stelle, die er jetzt ganz wörtlich wissen wollte. Und fand die Stelle: Ich bin dran jetzt. Mir ist auf dem Kopfe das letzte Moos gewachsen. Mein Atem erreicht meine Lippen kaum noch. Stille, Leere, Ausgeräumtheit. Mit diesen Sätzen verband ihn, daß sie nicht gesagt, sondern geschrieben worden waren.
Er zwang sich zurück zum weltbedeckenden Reisig. Nichts als das. Aber daß er sich hatte durchgehen lassen, er werde jetzt endlich rückhaltlos lügen, ging ihm nach. Er hätte sich doch längst trennen müssen von dieser Moral-Linguistik, von dieser Bestrafungs-Philologie. Religionsfeudalismus ist das. Wenn er nicht mit sich übereinstimmte, war, was er sagte, nicht das, was er dachte. Und mußte doch gesagt werden. Wollte gesagt werden. Alles, was du sagst, ist wahr. Und zwar dadurch, daß du es sagst.
Ende, würde Strabanzer sagen.
Er wollte jetzt, zum Beispiel, nicht mehr denken, er sei froh, daß es mit Joni so schnell zu einem Schluß gekommen war. Aber das Gegenteil, daß es nicht zu Ende war, war genau so undenkbar. Alles war undenkbar. Bevor ihm das Atmen schwerfiel, sah er wieder über das zu allen Horizonten reichende, weltdeckende Reisig hin. Die Horizonte, eine scharf vom alles deckenden Reisig gezogene Linie. Über dieser Linie nichts als fahle Farblosigkeit. Das weltfüllende Reisig führte den Blick in diese Farblosigkeit. Er schlief ein. Träumte wohl auch. Kriegte keine Luft mehr. Die Kehle war dicht, war zu, er hatte keine Kraft mehr, irgend etwas zu bewirken. Er bemerkte, daß er jetzt ersticken werde und daß er dagegen nichts tun könne. Aber da, als er glaubte, es sei zu spät, riß die Kehle wieder auf,
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