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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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18. Jahrhunderts. Und die Herumsitzenden sollten nicht nur zustimmen, sondern durch eigene Erfahrung bestätigen, daß Voltaires Schauerskizzen das Wahrste seien, was man je über diese Welt geschrieben habe. Da sei ihm, Babenberg, der Geduldsfaden gerissen. Vielleicht war’s auch der vortreffliche Burgunder. Wenn man gezwungen werde, sich Geschichtchen über Fabergés Rolle in der Geschichte der Romanows anzuhören, wisse man zwar auch nicht in jedem Augenblick, warum man sich das anhören solle, aber dem Fabergé-Reiz verfalle man dann doch ganz gern. Daß man aber diese Vereidigung auf das langweiligste Voltaire-Buch mitmachen soll, geht zu weit. Jeder hat natürlich einmal Candide gelesen. Diesen sinnlosen Kulturzwang gibt es eben. Und die krisengeschüttelte Diego-Situation bringt vielleicht die insgeheim längst erwünschte Sekunde, in der man es diesem Langweiler heimzahlen kann. Tatsächlich ist Candide nichts als ein aufgedonnerter Schreckensschwulst, ein ganz unattraktives Grausamkeitsprogramm. Nichts zu Herzen oder auf die Nerven Gehendes. Die krassen Schicksale der damaligen Trivialliteratur werden einer edlen Lehrtendenz dienstbar gemacht. Eine einzige Ausnahme. Und die zeigt, wie öde der Rest ist. Die Begegnung mit dem Neger im Hafen in Surinam. Die linke Hand und das rechte Bein fehlen dem. Und wir erfahren, welcher Kolonialismus daran schuld ist. Das hat Biß. Hat humane Wucht. Alles andere ist Oper ohne Musik. Ach, unser Diego! Aber jetzt kommt es erst. Kruzitürken, sagt Diego, als ich meine Candide- Schelte beende, als wolle er sagen: Das gibt es doch nicht, mir meinen Voltaire so zuzurichten. Und hat kaum Kruzitürken gesagt, da fährt ihm Gundi dazwischen. Sie sitzt wie immer neuerdings im Fauteuil à la Sirène, aber sie sitzt da ja nicht, sie ist ein Teil, und nicht der schlechteste, dieses Fauteuils. Spitz-scharf-jäh ruft sie: Diego! Der hört den Ton, weiß noch nicht, wodurch er sich den zugezogen hat, schaut also nur ergeben zu ihr hin und kriegt zu hören: Du weißt, daß ich fluchende Männer so gräßlich finde wie Männer, die ihre Muskeln für Geld zeigen. Das war nun wieder meine Sekunde. Es hätte meine Selbstbeherrschungskräfte überfordert, die so dazwischenfahrende Gundi nicht zu belehren, daß Kruzitürken alles andere als ein Fluch ist. Mit Quellenangabe: Ein Cousin in Wien hat ein Buch über die Belagerungen durch die Türken geschrieben, darin berichtet er, daß Wien sowohl von den Kurruzzen als auch von den Türken belagert worden sei. Aus dieser Kriegserfahrung mit Kurruzzen und Türken stamme der Ausruf. Gundi wollte überhaupt nicht hören, daß sie sich eingemischt hatte ohne Grund. Sie stand auf und ging. Keiner wagte, sie aufzuhalten. Am fassungslosesten war Diego. Sie flieht, sagte er strafend zu mir hin. Ich wollte noch um zivilere Wörter bitten, aber er war und blieb fassungslos. Sie flieht, sagte er noch einmal. Sie hat doch recht. In diesem Raum, in dem alles vermieden ist, was nicht beanspruchen darf, schön zu sein, da fluche ich wie eine Trachtenbedienung auf dem Oktoberfest. Also blieb ihr nur die Flucht. Diego ließ uns jetzt spüren, daß die dreißigtausend Erdbebentoten von Lissabon, die bei Voltaire den Candide ausgelöst hatten, und Gundis Flucht zwei gleichermaßen weltbelehrende Ereignisse sind.
    Und Karl von Kahn: Man kann sich, was einen lehrt, nicht aussuchen.
    Er habe es, sagte Babenberg, immer attraktiv gefunden, daß Diego von seinen Gästen beneidet werden wollte. Wie er das als Lust verkaufte, von seinesgleichen beneidet zu werden, das sei immer großartig gewesen. Jetzt aber die Nötigung, ihn zu bedauern, mit ihm zu trauern. Also peinlicher sei ihm, Babenberg, noch nie etwas Gesellschaftliches gewesen. Deshalb sei er, als Gundi geflohen war, aufgestanden, habe, was jetzt nicht paßte, à la Jérôme Morgen wieder lustig gesagt und sei gegangen. Im Hinausgehen habe er gedacht, er, wie Diego zum dritten Mal verheiratet, müßte den eigentlich verstehen. Allerdings, wenn seine Dritte fliehen, das heißt den Vertrag kündigen würde, wäre er ruiniert. Womit er angelangt sei bei dem Grund seines Besuchs. Geld sei bis jetzt immer die einfachste Form der Bestätigung gewesen. Jetzt bleibt es aus. Sein Vater hat Geld verachtet. Als bayerischer Beamter konnte er sich das leisten. Beamte sind Engel ohne Flügel, hat er behauptet. Zum Schluß Parkinson, und Daumen und Zeigefinger der rechten Hand machten dann ununterbrochen und ununterbrechbar die

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