Angstblüte (German Edition)
manifestieren, auch jetzt war das Bonsai-Neuschwanstein noch immer die Herzkammer seines Schönheitsimperiums, und der Sängersaal war die Herzkammer der Herzkammer. Vor den von drei Porphyrsäulen getragenen Rundbögen auf der Stirnseite des Saals hatte Diego seinen eigenen Geschmack entfaltet. Empire. Da saß man, nachdem man, von Diego geführt, auf der Galerieseite des Saals Diegos neueste Eroberungen beziehungsweise Offerten besichtigt hatte. Graphiken von Rembrandt ebenso wie Schafe am Bachlauf bei Bad Tölz im Vorfrühling . Fragonard-Blätter ebenso wie Hirtenjunge mit Kühen und Kälbern . Aber eben auch Schinkel-Stühle, versehen noch mit dem Etikett aus dem Stadtschloß in Berlin, oder eine Amatigeige mit diamantbesetzten Wirbeln aus dem Jahr 1646. Und er sagte immer freiheraus, daß er dieses Adolph-Menzel-Bild und diesen Corinth und diesen Schreibtisch Metternichs hier im engsten Kreis zeige, weil er solche Werke von keiner Laufkundschaft weggekauft sehen möchte. Er wollte immer wissen, wo, was er anbot, bleiben würde.
Denen, die er zum ersten Mal in den Sängersaal geladen hatte, erzählte er natürlich, wie er Besitzer dieses Bonsai-Neuschwansteins geworden war. Er hatte den Erfinder Ruckstuhl über fünfzehn Jahre hin zu einem bedeutenden Manierismussammler gemacht. Das war Diegos Leidenschaft: in jedem, der zu ihm kam, die Neigung zu entdecken, die in dem Betreffenden angelegt war, und diese Neigung dann zu entwickeln. Der Erfinder Ruckstuhl sei ein Verehrer Ludwigs II. gewesen und ein schwieriger Mensch, der sich mit manieristischer Kunst umgeben habe, mit Bildern, die man nicht verstehen, sondern nur anschauen konnte. Ihn habe nur das Unerklärliche interessiert. Bevor der Darmkrebs ihn zwang, sich zu vergiften, habe er seine Sammlung seiner Heimatstadt Rietberg im Ostwestfälischen geschenkt. Reich geworden sei Ruckstuhl mit revolutionären Erfindungen im Bereich der Abwasserbeseitigung. Zuletzt habe er noch mitgewirkt an der Entwicklung der Vakuumtechnik, mit deren Hilfe unsere Ausscheidungen ohne viel Wasserverbrauch aus den Zugaborten herausgesaugt werden.
Wenn Diego etwas erzählte, mußte er immer auch alles, was dazugehörte, erzählen. Also erlebte man eine gewisse Umständlichkeit. Die wollte er vor seinen Zuhörern nicht verbergen. Und daß, was er erzählte, erzählens-, also anhörenswert war, das mußte jeder, der ihm zuhörte, auch wenn er’s lieber knapper gehabt hätte, zugeben. Manche hielten Diego sicher für einen Angeber, bis sie merkten, daß er nur sagt, was er weiß. Diego macht den Eindruck, als wisse er immer noch mehr, als er sagt. Das eigentliche Risiko der Diego-Entfaltungen war, daß es unter seinen Gästen und Freunden Damen und Herren gab, die solche Abende und Nächte zur Selbstentfaltung brauchten. Amadeus Stengl etwa und Marcus Luzius Babenberg. Solche wie Stengl und Babenberg warteten darauf, sich einschalten und dann das Gespräch kurz einmal auf ihr Themengelände führen zu können. Sie waren doch auch Solisten. Als Diego, weil es wirklich dazugehörte, erzählte, daß der Erfinder Ruckstuhl nicht nur Ludwig II., sondern auch Pettenkofer verehrt habe, jenen Max von Pettenkofer, der geadelt worden war, weil er München durch ein Kanalsystem hygienisch, das heißt cholerafrei gemacht habe, da mußte er natürlich dazusagen, daß Ruckstuhl zeitlebens Pettenkofers Grab auf dem Alten Südlichen Friedhof gepflegt habe, ein Grab am Friedhofsrand, weil Pettenkofer eben auch ein Selbstmörder gewesen war. Selbstmord mit einundachtzig. Und viel unerklärlicher als Ruckstuhls Selbstmord.
Das war die Stelle, an der Marcus Luzius Babenberg sich einschaltete. Es leuchtete jedem Zuhörer ein, daß das, was Babenberg dann vorbrachte, nicht fehlen durfte. Der Selbstmord Pettenkofers sei keinesfalls unerklärlich gewesen, Pettenkofer habe sich umgebracht in einem Anfall von Schwermut und Verzweiflung, weil Robert Koch die Erreger der Seuchen, die Bakterien, entdeckt hatte, während er, nur ein Hygienefanatiker, ein Abwasser-Praktiker, versuchen mußte, die Bedeutung der Koch-Entdeckungen vielleicht wider besseres Wissen herunterzuspielen. Auch vor sich selbst. Wer kennt das nicht! Den überlegenen Konkurrenten nicht anerkennen können heißt, sich selber umbringen zu müssen. Der Goethe-Spruch, daß gegen unbestreitbare Vorzüge des Konkurrenten nur die Liebe helfe, war dem Naturwissenschaftler nicht mitgegeben worden. Dann entschuldigte sich Babenberg dafür, daß
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