Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
Vom Netzwerk:
interessieren. Das gehört zu keinem Kanon.
    Droben in seinem Arbeitszimmer drückte er automatisch den Hebel, daß der Stuhl kippte, und sah zu den Lärchenbrettern seiner schrägen Decke hinauf. Er hatte, bevor er in Helens Haus einzog, dem Dachboden dieses Arbeitszimmer abgerungen. Von Giebel zu Giebel reichte das Zimmer unter der Dachschräge. Und die Lärchenbretter, die anfangs hell gewesen waren, wurden von Jahr zu Jahr honigfarbener. Wenn er so saß, sah er den Brettern direkt in ihre dunklen Astaugen und hatte das Gefühl, die sähen auch ihn an. Es ist nicht so schlimm, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann. Wieviel Vermeidenswertes wird da vermieden. Wenn man mit einem Menschen zusammenlebt, mit dem man eigentlich sprechen können sollte, zum Beispiel weil man mit ihm verheiratet ist, dann wird das Nichtsprechenkönnen sogar etwas Feines. Eine Art Auszeichnung. Und wenn du mit dem mit dir Verheirateten nicht sprechen kannst, kannst du mit niemandem sprechen. Und das will schon etwas heißen.
    Karl lachte.
    Das war auch etwas, allein zu lachen. Lachen, dazu gehören doch noch andere. Als er sich jetzt allein lachend erlebte, erlebte er sich überhaupt zum ersten Mal lachend. Wenn er mit anderen in Gesellschaft lachte, erlebte er immer nur die anderen lachend, nie sich selbst.
    Und lachte noch einmal. Aber das zweite Lachen gelang nicht mehr. Er würde nie mehr allein lachen.
    Er rief Erewein an. Keine Antwort. So etwas wie einen Anrufbeantworter gab es nicht bei Erewein.
    Karl war froh, wenn er nicht aus sich herausgehen mußte. Sein früh verstorbener Vater, Rechtsanwalt, aber im Allianz-Dienst, soll ein in sich gekehrter Mann gewesen sein. Wegen einer Zugpanne hatte er in Erfurt aussteigen müssen, hatte den Dom aufgesucht, hatte eine junge Frau im Dom herumgehen sehen, war hinter ihr stehengeblieben, als sie vor dem Wolfram stand, als wolle sie überhaupt nicht mehr weiter. Erst durch sie hatte er die barlachhaft schöne Figur aus dem Mittelalter entdeckt. Sie ging dann so weiter, daß an ein Ansprechen nicht zu denken war.
    Er hatte ihr nachfahren müssen, nämlich nach Dresden.
    Angesprochen hat er sie erst, als sie in Dresden aus der Theatertür, in die sie hineingegangen war, wieder herauskam. Beschwingt herauskam, weil sie die Choreographen-Stelle gekriegt hatte. Wenn sie nicht mehr herausgekommen wäre oder nicht mehr zu dieser Tür herausgekommen oder zwar zu dieser Tür herausgekommen, aber fröhlich plaudernd mit einem sizilianischen Tänzer oder einem norwegischen Korrepetitor, dann hätte er, der Sechsundzwanzigjährige, die Einunddreißigjährige nicht ansprechen und dann auch nicht heiraten können.
    Diese Überlieferung konnte Karl brauchen. Bruder Erewein, der für die Familiengeschichte zuständig war, sagte, wenn er wieder etwas ausgegraben hatte: Das sind wir. Daß er zwischen sich und Karl keinen nennenswerten Unterschied sah, war Karl nur recht. Karl hatte Erewein gegenüber ein schlechtes Gewissen. Obwohl Erewein doch offenbar genauso lebte, wie er mit Frau Lotte leben wollte, glaubte Karl, Erewein lebe andauernd neben sich her. Bei ihm selber kam das gelegentlich auch vor. Vor jedem Treffen mit Erewein und Frau Lotte bat er Helen erneut, sie möge aufpassen und ihm nachher sagen, was ihr zu diesem Paar einfalle. Das sei schließlich ihr Beruf. Helen mußte nachher jedesmal zugeben, daß ihr das Erewein-Lotte-Paar verschlossen blieb. Sie wollte nicht vorschnell Trivialitäten produzieren. Ihre wiederkehrende Aussage war: Dieses Paar ist unzugänglich. Die haben einen Kokon gesponnen, an dem gleitet Neugier ab. Sie bleiben auf das freundlichste zugewandt, aber sie bestimmen in jedem Augenblick die Entfernung. Er vermutete, daß Erewein und er einander näher waren, als es der Unterschied ihrer Lebensumstände glauben machte. Seine Ungeduld und Ereweins scheinbar unerschöpfbare Geduld waren im Innersten eine Stimmung. Was es Erewein kostete, diese Gleichmütigkeit zu zeigen, konnte nur Karl ahnen. Das war doch dasselbe bei ihm und Diego. Er, der Geschehenlasser, Diego, der Macher. So mochte es aussehen, so mochte es die ganze Welt beurteilen. Er aber nicht. Das war seine Betriebsseite, seine Berufsmethode, vielleicht auch noch seine Gesellschaftsmaske. Es kostete jedes Jahr noch mehr Selbstbeherrschung, seine andauernd ausbrechen wollende Ungeduld zu zügeln, zu verbergen. Er hatte doch keine Zeit mehr. Und er hatte nicht erreicht, was er hatte erreichen wollen. Weder

Weitere Kostenlose Bücher