Angstblüte (German Edition)
sie: Du errätst nicht, von wem.
Und er: Aber du wirst es mir sagen.
Jetzt war er schon im Wohnzimmer, das das Wohnzimmer ihrer Eltern war, weil Karl, als er in Helens Haus zog, seine Möbel und sein Haus Henriette überlassen hatte. Helen hatte es geschafft, ihren Mann ohne weiteres loszuwerden. Der hatte nichts mitgebracht, also hatte er auch nichts mitzunehmen. Er mußte einfach gehen. Helen konnte so etwas so deutlich darstellen, daß finanzielle oder andere rechtliche Probleme gar nicht mehr erwähnt werden konnten. Es ging, bitte, um Wesentlicheres, nämlich um das Leben. In diesem Fall um das durch den Ehemann verhinderte Leben. Das darzustellen war Helens Beruf. Die Ehe. Die wissenschaftliche Erforschung der Ehe und die Anwendung des Erforschten in der Eheberatung. Sie hatte zwei Bücher veröffentlicht, und eines, das auf ihre Doktorarbeit zurückging, wurde immer noch verkauft, es hieß jetzt: Leidenschaft, Liebe oder Leistung. Zitiert wurde immer aus der Doktorarbeit, die hatte geheißen: Zur Aufklärung der Zweierbeziehung als psychosomatisches Unikum.
Von wem sie zitiert worden war, wollte sie nicht sagen. Und warum nicht? Es sei so ernüchternd, Karls Gesicht anzusehen, daß er den Namen des berühmten Heidelberger Professors, der sie zitiere, noch nie gehört habe.
Immerhin ein Heidelberger Professor, sagte Karl.
Sie legte ihren Kopf wieder seitlich an seine Brust, und er rieb sein Kinn in ihren blonden Haaren.
Er ließ sein Kinn kräftiger reiben und zog sie heftiger an sich. Auch das ein Ritual. Aber eins, das Gefühle meldete und sie dadurch verstärkte. Helen würde nie alt oder unscheinbar oder häßlich aussehen. Nur die sich selbst inszenierenden, auffallen müssenden Schönen werden durch das Alter häßlich. Nicht aber die Gutaussehenden, die keinesfalls Unscheinbaren. Sie sind auf ihre persönliche Weise schön. Solchen Frauen sieht man ihre Seele an oder ihren Geist oder ihre Entschlossenheit. Das ist unzerstörbar. Helens Gesicht, das waren ihre vergißmeinnichtblaßblauen Augen und ihr Mund, dessen Lippen sich zart, aber deutlich nach vorne schoben und fast in einer Spitze endeten. Das Auffallende: Zuletzt überkreuzten sich Ober- und Unterlippe ein bißchen. Diese Lippenstellung sorgte dafür, daß Helen ein bißchen lispelte. Bei Helen war alles ein bißchen. Karl nannte sie manchmal Miss Einbißchen. Aber gar nicht ein bißchen waren ihre Augenwimpern. Die waren gesichtbeherrschend. Die Nase kam nicht in Frage zwischen diesen Wimpern. Die waren wohl im Erbprogramm in viel größeren Gesichtern tätig gewesen. Für Helens Maße waren diese blonden Jalousien zu groß. So erinnerte Helen immer auch an die Illustration in einem Kinderbuch. Dank dieser Wimpern war Helens Lispeln eine willkommene Ergänzung. Sie lispele, wenn es in ihr, hatte sie selber einmal gesagt, stürmte und drängte.
Und was sie heute wieder anhatte! Ein gerade noch eierschalenfarbenes Twinset, mit Röschenbordüren grell besetzt. Märchenhaft, dachte Karl. Entweder führte Helen ihr mattes Blond in der Kleidung fort, oder – und das öfter – sie setzte dem gleißenden Wimpernblond und dem matteren Haarblond meergrüne Blusen entgegen, oder sie nahm das Vergißmeinnichtblaßblau der Augen auf in einem massiv blauen Hemd.
Helen fragte nicht, wie es Diego gehe. Immerhin hatte sie am Vormittag Gundis Anruf mitgekriegt. Er fragte noch, ob Erewein angerufen habe.
Nein, hat er nicht. Helen mußte mitteilen, was sie heute, wieviel sie heute geschafft hat. Der erfolgreiche Patient ist fast fertig, es fehlt nur noch der apotheotische Triumph des Patienten, wenn er auf alles, was man bis jetzt von ihm erfahren hat, zurückblickt und begreift, daß seine Leidensgeschichte seine wirkliche, seine einzige Erfolgsgeschichte ist. Der zweite Teil ist die Anwendung all dessen, was der Patient im ersten Teil gelernt hat. Statt Gejammer Selbstgenuß, immer und überall. Lauter Belege des erlernten Sichselbstgenießenkönnens.
Auch wenn sie sich so steigerte, blieb sie zart, das heißt, sie wurde weder laut noch heftig, sie lispelte ein bißchen intensiver, sie zeigte, daß sie entzückt war von dem, was sie heute erarbeitet hatte. Sie konnte selber bewundern, was ihr heute wieder gelungen war. So bewundern, als sei nicht sie es, die das und das formuliert und damit zur Welt gebracht hatte, sondern als habe das, was sie heute beschrieben habe, immer schon existiert und sie sei eben die, die auf das aufmerksam mache, was immer
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