Angstblüte (German Edition)
schon dagewesen und aus Unachtsamkeit jeder Art bisher nicht wahrgenommen worden sei. Aber trotz des Eifers, von dem sie dann mitgerissen wurde, paßte sie scharf auf, ob ihr Zuhörer ihr wirklich zuhörte oder ob er bloß dasaß und insgeheim an etwas dachte, was er nicht vergessen durfte. Dann stand sie auf, kam zu ihm herüber, setzte sich auf seinen Schoß, legte ihren Kopf an ihn und sagte, daß sie ohne ihn weder zu einem Satz noch zu einem Gedanken fähig wäre, doch, das ist bewiesen, bewiesen in zwölf Jahren Pseudo-Ehe mit dem Schlösserverwalter und Ludwig-Zwo-Fan Dr. Sebastian Miquel.
Wenn sie so weit war, konnte sie an ihm liegen und leise weinen. Vor Glück, sagte sie. Wenn er sich nicht für alles, was in ihr vorgehe, so interessierte, könnte sie sich selber auch nicht dafür interessieren, und alles in ihr zerfiele sozusagen unbemerkt.
Er sagte dann: Was sie jetzt sage, sei die reine Phantasie ihrerseits, eine Blütenproduktion zur Ausschmückung der Neuen WG – sie hatten ihre Ehe von Anfang an die Neue WG genannt –, aber ihn mache dieses ihr Geschenk um so glücklicher, je deutlicher er spüre, daß er es nicht verdiene, daß es also ein reines Geschenk sei, das reine Geschenk schlechthin.
Du bist ein begabter Schatz, sagte sie und löste sich von ihm.
Jetzt aber hinauf, sagte er.
Ich entlasse dich, sagte sie.
Ich danke dir, sagte er. Daß sie jetzt nicht sagte: Ich dir! Das war eben Helen, das Kind, dem man zuhören mußte.
Es war von Anfang an so, daß sie immer mehr zu erzählen hatte als er. Sie mußte erzählen, was sie in der Praxis erlebt hatte. Sie kolportierte nichts, aber das Problemprofil ihrer Fälle mußte sie jemandem vorführen. Der erste Mann war dazu überhaupt nicht bereit gewesen, weil er seinerseits loswerden mußte, was ihm in der Schlösserverwaltung untergekommen war. Das hat nach zwölfjährigem Toleranzverschleiß zu dem natürlichsten Ehe-Ende geführt, das man sich vorstellen kann. Sebastian, dem Schlösserverwalter, mußte es allerdings noch denkgerecht vorgesagt werden. Die Ehe, die nie begonnen hat, sagte Helen über diese Ehe. Sebastian hatte sich Helens mit einer solchen Vehemenz bemächtigt, daß sie glaubte, Zeugin eines Naturschauspiels zu sein. Das ließ sie, neugierig, wißbegierig und lernfroh, wie sie war, einfach mit sich geschehen. Dr. Sebastian Miquel war einsneunzig groß und wog zweihundert Pfund. Er hatte sie Lenerl genannt.
Karl hatte begriffen, daß Helen Zuhörerschaft nicht vorgetäuscht werden durfte. Ihr Vater muß ein unersättlicher Helen-Zuhörer gewesen sein. Ihren Vater übertreffen, das sollte, wer sie wollte, wenigstens versuchen. Karl war ein Zuhörer. Zuhören war sein Beruf. Die Damen und Herren, die zu ihm kamen, reden lassen, bis sich das, was man ihnen zu raten hatte, aus dem Gehörten von selbst ergab. Die Leute beraten sich, wenn man ihnen Gelegenheit gibt, selbst.
Karl warf sich vor, daß er Helen zu wenig schätze. Sie erforschte das Leben. Er machte Geld. Geld war für sie etwas, das man hatte. Wollte man ihr etwas über Geld sagen, mußte man sich bildlich ausdrücken. Das hatte er eine Zeit lang versucht, sie hatte seine Sprachbilder kritisiert, er hatte zuzugeben, daß seine Sprachbilder für Geld mangelhaft seien. Er hatte dann aufgehört, sich ihr verständlich machen zu wollen. Wenn er empfand, wirklich empfand, daß er Helen zu wenig schätze, sagte er sich, daß sie ihn auch zu wenig schätze. Er mußte ihr immer demonstrieren, wie sehr er sich für alles interessiere, was sie tue und denke und schreibe. Was er dachte und tat, ließ sie gelten, mit Nachsicht. Sie warf es ihm gewiß nicht vor, daß er ein Geldmensch war, aber mehr als freundliches Geltenlassen durfte er nicht erwarten. Während sie doch die Eheheilerin selbst war. Und das war sie. Die Ehe sei, das hatte sie durch Studium und Praxis erkannt, das eigentlich Kranke dieser Zeit und dieser Gesellschaft. Wenn sie nicht jahrelang das Ehemartyrium unter den zweihundert Pfunden des Dr. Miquel erlitten hätte, wäre sie nicht geworden, was sie jetzt ist. Eheheilerin aus Leidenschaft. Hätte sie sofort ein Eheglück erlebt wie mit Karl, hätte sie Ehe-Therapie für einen luxuriösen Zeitvertreib halten müssen. Sie kämpft ja um jede mürbgewordene, brüchige oder schon kaputte Ehe, als hinge immer das Schicksal der Menschheit ab von diesem einzigen Fall. Und er vermehrt Geld. Das ist kulturell abgemacht: Für Wirtschaftliches muß man sich nicht
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