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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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  Dirk-Schlaks zu.
    Das Einnehmende an Dr.   Dirks Vortrag war eine Gegenständlichkeit, die von Meinungen unabhängig zu sein schien. Und seine Stimme ging, wenn er von seiner Sache sprach, um zwei Töne nach oben, und zwar, ohne daß eine Anstrengung oder Absicht spürbar wurde. Karl konnte nicht verhindern, daß er an Arien dachte. Rezitativ und Arie eigentlich. Aber der Text war vollkommen konkret. Ein Experte im Fraunhofer-Institut hat ihn hellhörig gemacht. In Kürze werden endlich die elektronischen Impulse im Computer durch optische Signalgeber abgelöst werden. Bei den optischen Systemen auf Laser-Basis gibt es keine Wärmeabstrahlung mehr wie in den elektronischen Verbindungen auf Kupferbasis. Pro Computer werden zehn Laser à 3 bis 5   Euro gebraucht. Pro Jahr müssen 200 Millionen Computer damit ausgerüstet werden.
    Dr.   Dirk dankte für das Zuhören, dankte Frau Lenneweit für das Protokollieren und wandte sich an Herrn Brauch. Herr Bedenkenträger, sagte er, was kann ich für Sie tun.
    Karl war froh, daß Berthold Brauch Bedenkenträger genannt wurde. Das war eine ideale Rollenverteilung. Dr.   Dirk stürmisch, Berthold Brauch bremsend. Als auf alle Bedenken reagiert worden war, hob Karl die Sitzung auf. Er ging als erster. Bei Frau Lenneweit, die sich längst benahm, als gehöre die Firma ihr, bedankte er sich ausführlich. Immer wenn er ihre Hand halte, sagte er, wünsche er sich, Wilhelm der Zweite zu sein. Der sei ein geradezu süchtiger Damenhandküsser gewesen, das wisse er aus Familienüberlieferungen. Nicht nur die Hände der Damen, sondern die Unterarme bis zu den Ellbogen habe Seine Majestät abgeküßt. Es sei den Damen nicht erlaubt gewesen, ohne Handschuhe zu erscheinen. Wenn die Stimmung dann soweit war, gab Seine Majestät bekannt, die Damen dürften jetzt aus ihren Handschuhen schlüpfen. Das müsse die Sekunde der reinen Pornographie gewesen sein. Auch überliefert sei, daß Wilhelm, solange Zeugen gegenwärtig waren, nur die Hände geküßt habe. War kein Zeuge da, küßte er eben drauflos, also bis zum Ellbogen hinauf. Er selber hatte ja, das dürfe man dabei nicht vergessen, eine unterentwickelte Linke. Also, liebe Frau Lenneweit, da hier noch Zeugen sind, beherrsche ich mich und küsse Ihnen nichts als die Hand. Und empfehle mich.
    Und empfahl sich.
    Auf dem Weg zum Odeonsplatz dachte er an Erewein. Was er über Wilhelm   II. gesagt hatte, wußte er von Erewein. Erewein war die Golddeckung, er war die Papierwährung. Er kursierte. Erewein war der Wert. Die Expertin Helen sah Erewein gezeichnet vom Stigma der Erfolglosigkeit. In Dr. Dirks Doktorarbeit hatte Karl gelesen, daß Nathan Rothschild sich weigerte, sich mit einem unglücklichen Manne einzulassen, und klinge, was der zu sagen habe, auch noch so klug. Nie mache ich Geschäfte mit solchen. Sie können sich selbst nicht helfen, wie sollen sie da mir helfen? Armer Erewein.
    Wie die U 6 anschob, tat ihm jedesmal gut. Besonders wenn er einen Sitzplatz gefunden hatte. Er empfand den Schub mit seinem ganzen Körper. Das hatte man ihm wohl angesehen. Er hörte einen jungen Riesen sagen: Da hockt so ’n alter Knacker, der meint … Der Rest wurde zugedeckt vom Gelächter der Gruppe.
    Natürlich mußte er, wenn er dann an der halbhohen Ziegelmauer des Nordfriedhofs entlangging, hinüberschauen ins Gräberwirrwarr. Nie morgens, aber abends auf dem Heimweg blieb er manchmal stehen bei dem Engel dicht an der Mauer, bei den großen grünspanigen Flügeln, die man nur von hinten sah, weil der Engel über die Gräber hinschaute, den Lebenden den Rücken zuwandte. Er sollte sich allmählich eine Grabstelle suchen. Die Vorstellung, bei Helens Vater und Mutter in Tutzing unterzukommen, war ihm unbehaglich. Aber jedesmal, wenn er über diese Mauer schaute, dachte er, daß er hier nicht beerdigt sein möchte. Die Grabsteine standen zu eng nebeneinander. Überfüllt wie die U-Bahn, dieser Friedhof.
    Bis er in die Osterwaldstraße einbog, ging er immer, als sei er in Eile. Dann aber ließ er sich protegieren von den Bäumen. Die Bäume gaben alles, was man an sie hindachte, reichlich zurück. Zinsen, dachte er und ging noch langsamer.

6.
    Karl war noch nicht in der Halle, da rief sie für ihre Stimmausstattung zu laut: Ich bin wieder zitiert worden! Helen war stolz darauf, daß sie keine starke, sondern eine hauchige Stimme hatte. Wenn sie rief, ließ sie hören, daß sie sich überanstrengte.
    Also rief er zurück: Gratuliere.
    Und

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