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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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keine Distanz zu sich selber kenne. Diego war immer ganz ausgefüllt von sich selbst. Karl hatte das Gefühl, er fülle sich selbst nie ganz aus. Er war nicht ohne Selbstgefühl. Aber dieses Selbstgefühl enthielt auch eine deutliche Portion Leere. Die er zu füllen hatte. Mit sich. Diesen Einhorn-Tisch mit dem Frauentorso hätte Karl, wäre er in eine vergleichbare Finanzlage geraten, nicht gekauft. Diego hatte Gundi nicht sagen können, was er dafür bezahlt hatte, das hieß, der Tisch war zu teuer.
    Karl saß und überließ sich sich selbst. Immer angeschaut von den vielen dunklen Augen der honigfarbenen Bretter.
    Aber Leonie von Beulwitzen wollte nicht, daß er sich sich selbst überließ. Eigentlich war ihr Telefontermin erst übermorgen, da allerdings – das war ihr Privileg – zu jeder Tageszeit. Kennengelernt im Bonsai-Neuschwanstein, immer wieder dort getroffen, ihr damaliger Mann, ein von der ganzen Welt bewunderter Chirurg, war Diegos Kunde, nach der Scheidung von Leonie kam der nicht mehr, Leonie kam immer noch, mußte mit den Gewinnen aus drei Scheidungen etwas anfangen, Karl von Kahn bot sich als Finanzdienstleister an, entdeckte in ihr, die laut Amadeus nur eine Scheidungsgewinnlerin sein sollte, ein Anleger-Talent, das entwickelte er, sie selber ließ wissen, sie habe sich dreimal präventiv scheiden lassen. Leonie von Beulwitzen konnte anrufen zu jeder Zeit. Karl ließ sich die Freude über Leonies Lerneifer nicht trüben. Bei Leonie von Beulwitzen kam es darauf an, daß sie alles so erlebte, als entscheide sie selber und allein. Sie hatte inzwischen das Handelsblatt abonniert und rief an, wenn sie etwas, das ihr wichtig vorkam, nicht verstand. Oder sie schrieb. Schrieb auf einem Briefpapier, auf dem zu lesen war: MA Leonie von Beulwitzen. Magister of Art war sie also. Und das schrieb sie vor den Namen. Sie hatte eine hohe Stimme, redete einem mit ihrem selbstbewußten Schwäbisch gern in die Sätze hinein. Diesmal wollte sie wissen, ob Karl von Kahn gelesen habe, was heute über Joseph Granville und von Joseph Granville in der Zeitung stand.
    Natürlich wußte er das.
    Und, was sagt er dazu?
    Gnädige Frau, sagt er dazu, Sie sind vor allem lebendig …
    Schmeichler, rief sie dazwischen …
    … aber Mister Granville ist ein Maschinist.
    Der gibt seit Jahrzehnten den Granville Market Letter heraus, rief sie, die Daten speichert er seit fünfzig Jahren, und jetzt schreibt er: Wir stehen kurz vor einem Zusammenbruch, der Markt schreit nach einem Ausstieg! Den Zusammenbruch der Technologiewerte hat Mister Granville genau vorausgesagt, überhaupt alle Katastrophen der letzten dreißig Jahre, ich habe den ganzen Tag auf Ihren Anruf gewartet, Herr Kahn. Ich fühle mich bedroht. Persönlich bedroht. Ich habe Angst, verstehen Sie.
    Eine halbe Stunde brauchte er, um Frau von Beulwitzen aus ihrer Angst zurückzurufen.
    Und er mußte sich ein bißchen gelassener geben, als er war.
    Der Markt ist ein Nervensystem, hatte er ihr erklärt. Wenn in Australien ein deutscher Wirtschaftsprofessor etwas Schlimmes über Brasilien sagt, passiert dort etwas Halbschlimmes. Aber Mister Granville kann nicht für alle sprechen, auch wenn seine Maschinen mehr Daten speichern als alle andere Maschinen. Jeder hat nur eine Perspektive, aber jeder hat eine. Karl von Kahn kennt jede Anlage, die er entwickelt hat. Droht einer von ihm konstruierten Anlage eine Gefahr, fühlt er sich alarmiert. Die Depots, die er zusammengebaut hat, werden, da er ja andauernd mit ihnen umgeht, Teil seines Nervensystems. Er ist darauf spezialisiert, die Depots durch solche Niedergangsmeteorologie heil durchzusteuern. Jeder Zusammenbruch produziert auch eine Gegenbewegung. Die muß man spüren, dann erkennen, auf die muß man setzen. Mehr als einmal hatte Karl die ihm anvertrauten Depots nicht nur bewahrt, er hat sie gewinnreich aus solchen Katastrophenszenarien hervorgehen lassen. Die Katastrophenpanik ergreift immer die Großen. Wer sich konkret um das Kleine kümmern kann, der steuert aus der Nische heraus den rettenden Kurs.
    Das war sein Text, sein Gesang. Dann konnte er sich einen Augenblick lang nicht beherrschen und sagte leichthin: Sollten die klassischen Werte stürzen, die Gnädige Frau hat sich ja bei Precious Woods zukunftssicher untergebracht.
    Oh, sagte sie, Sie lassen mich beobachten.
    Und er: München ist ein Dorf.
    Zürich offenbar auch, sagte sie. Und wollte doch noch wissen, ob er über die Edelholz-Aktien, auch wenn sie sie nicht

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