Angstblüte (German Edition)
saßen und einen Schluck Evian getrunken hatten, machte der Professor eine Handbewegung, daß Karl verstand, er solle das Gespräch eröffnen.
Ja, sagte Karl ganz hell, Sie wollen also dieses Land verlassen.
Ich muß, sagte der Professor. Meine Kinder, die zwei eigenen und die angeheirateten gleichermaßen. Und die Enkel. Jetzt auch die Enkel.
Der Professor, der in seinem Sessel auf mehreren Kissen saß, stemmte sich hoch und ging auf und ab. In der Stadt sah man ihn nie ohne Stock. Im Haus immer ohne Stock. Er war ein Hüne mit einem Habichtprofil. Und immer noch silbernes Haar. Und braungebrannt. Der Professor war schön. Sein Auf- und Abgehen wirkte angestrengt. Er konnte auch nicht gleich sprechen. Bei jedem Schritt knickte er nach vorne, warf das Prothesenbein voraus, richtete sich auf und holte mit einer Drehung der linken Schulter das linke Bein, das gesunde, nach. Dann wurde die Prothese mit einem leichten Einknicken des Oberkörpers wieder vorausgeschickt, der Oberkörper aufgerichtet und die linke Partie hereingedreht. Sein Gehen paßte zu dem, was er sagte. Karl begriff, daß der Professor, was er sagte, nicht im Sitzen sagen konnte.
Die Kinder, sagte er, die eigenen und die angeheirateten, und jetzt auch schon die Enkel. Obwohl, die Enkel, sie reden noch nicht so daher wie ihre Eltern, sie staunen noch, mitleidig staunen sie, sie kommen mir sogar so nah, daß sie schielen, sie streicheln mich, aber sie verteidigen mich nicht. Gegen ihre Eltern. Die Schlacht ist entschieden. Seit heute nacht. Gestern sein Geburtstag. Tochter Mildred hat den ganzen Tag gekramt. Er hat sich gefreut, daß sie sich endlich für die Schachteln in den Kellerschränken interessiert hat. Dann, abends, gibt sie ihm, bevor die anderen im Raum sind, den Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1944, aufgeklebt auf ein Blatt schlechten Papiers, legt ihm das hin und sagt: Tun wir weg. Es war die Todesanzeige für Gerhard, seinen Zwillingsbruder.
Sein Leben, das zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, hat nun im Opfertod seine Erfüllung gefunden.
Mildred meinte, ihre Kinder sollten so etwas nicht sehen und ihr Mann Jost auch nicht. Er sagte ihr, daß er vorhabe, an diesem Abend zu erzählen, was er vor einem Monat auf dem Heldenfriedhof Charinki erlebt hatte. Einhundert Kilometer südlich von Wjasma. Da kamen schon die anderen, Mildred wollte die Todesanzeige verschwinden lassen, er nahm sie ihr weg, er präsentierte sie nach dem Essen. Sohn und Schwiegersohn und Tochter und Schwiegertochter boten mildernde Umstände an, das heißt, sie verstünden ja, daß er den Mai 45 als Niederlage erlebt haben könnte, aber in die Geschichte werde er aus guten Gründen eingehen als Monat der Befreiung.
Die seien ja, wie sie da um ihn herum saßen, noch ganz im Bann ihrer Gedenkübungen gewesen. Die gehören, sagte er, jetzt zum Mai wie früher Alles neu macht der Mai. Nun möge Herr von Kahn bitte bedenken, daß der Vater des Schwiegersohns Jost SS-Oberscharführer gewesen sei. Sein und Gerhards Vater aber war Bürgermeister in Tannheim und wurde abgesetzt, weil seine Frau im jüdischen Geschäft kaufte, obwohl da dranstand: Kauft nicht beim Juden. Der Vater kam dann notdürftig unter bei einem Freund als Hausmeister. Gerhard wurde vom Ortsgruppenleiter geohrfeigt, weil er ohne Hitlergruß an einem SA-Trupp vorbeigegangen war, der gerade eine Adolf-Hitler-Linde pflanzte.
Seine Geburtstagsgesellschaft hat der Professor gefragt, ob er erzählen dürfe, wie er um sein rechtes Bein gekommen sei. Das wollten die Enkel unbedingt hören. Also erzählte er: Er war kein Kriegsfreiwilliger oder Berufssoldat, er wurde eingezogen zur Infanterie, an Pfingsten 41 verlegt nach Polen, bis an den Bug, am 23. Juni um drei Uhr fünfzehn ging es los, Flieger, Geschütze, alles über sie weg. Sie sahen drüben auf der russischen Seite die Einschläge. Sie sind erschrocken. So eine Hölle hatten sie noch nicht erlebt. Er war ausgebildet als Funker. Jetzt über den Bug, über die Beresina, Mogilev, Smolensk, vor Moskau erwischten ihn drei Granatsplitter, alle drei in die linke Wade, in Jena wieder marschfähig gemacht, zurück in die Donsteppe, weiter ging’s bis Stalingrad. Sie schafften es bis zur Stadtmitte. Drei Monate lang hielten sie sich da. Bei einem Stoßtrupp warfen sie sich, um einem T 34 zu entgehen, in einen Granattrichter. Der T 34 kam auf sie zu, wollte sie überrollen. Er hatte noch eine Handgranate, die warf er dem in die Ketten, rannte los, wollte
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