Angstblüte (German Edition)
Schloßkauf des Kinderserienstars, war rechtzeitig zur Stelle und befreite den eher depressiven als nur melancholischen Kinderserienstar von allen Geschmackssorgen. Ein halbes Jahr residierte Diego in Orléans und kaufte, was Schloß Marmoutier-le-Rideau brauchte, um einen verdrossenen Kinderserienstar noch einmal aufzuhellen. Das gelang. Jeff Stamp konnte jetzt an der Tafel tafeln, an der einmal Heinrich III. seine Gelage zelebriert hatte, deren Reiz darin bestand, daß er nur als anständig bekannte Damen einlud, die er nötigte, an seiner Tafel halbnackt zu erscheinen. Von den Tellern, von denen gegessen wurde, hat Madame de Staël Brochet rôti gegessen. Die Porzellandose, aus der Zigarren angeboten wurden, hatte Balzac in seinen Händen gehabt. Ein Bett, in dem Madame de Pompadour geschlafen hatte. Zurück in Paris, hatte sie gesagt, in diesem Bett habe sie die zweitschönste Nacht ihres Lebens verbracht. Diego konnte die Briefstelle dieser Rühmung zitieren.
Diego hatte Jeff Stamp nicht nur eine Einrichtung beschafft, sondern eine Geschichte aus tausend Geschichten. Das habe Jeff am meisten gefreut. Jetzt konnte er, wenn seine Freunde aus Kalifornien kamen, die Rolle des Hausherrn geben.
Als Diego Marmoutier-le-Rideau hinter sich hatte, konnte er monatelang nicht vor zwei Uhr, drei Uhr nachts aufhören, wenn er seine Freunde und Bekannten und Leute, die seine Kunden werden konnten, nur mit dem Nötigsten versorgen wollte. Er hatte aus dem Schlösserparadies Frankreichs etwas mitgebracht, was er Jeff Stamp wohl für keinen Preis überlassen hätte. Aus dem Schloß Sully eine Chaiselongue, auf der Voltaire gesessen hatte, wenn er die Abendgesellschaft unterhielt. Von dieser Chaiselongue aus hatte Voltaire dem Salon den Satz gesagt, für dessen Unsterblichkeit die Aufmerksamkeit der fabelhaften Zuhörerschaft sorgte: Le superflu, chose très nécessaire . Und Diego konnte aufzählen, welche Comtes und Comtessen um den gefährlichen Philosophen herumsaßen und hörten, daß das Überflüssige das wirklich Notwendige ist.
Was Diego sagte, war Sache, Tatsache, historisch beglaubigt. Diego verkündete nicht, er erzählte. Und das unter einem Zwang, der es nicht duldete, daß ihm ein anderer dazwischenfahren, ihm gar das Wort rauben wollte. Solche Unterbrecher, die es ja gab, tun so, als gehöre das, was sie jetzt sagen wollen, zu dem, was Diego gerade erzählte. Diego musterte solche Unterbrecher mit einem kindlichen Staunen. Und Karl staunte seinerseits jedesmal, wie Diego dann das Wort wieder eroberte. Als einmal, wieder einmal, über Alt-Schwabing gesprochen wurde und Diego gerade dabei war, die Geschichte eines Hauses mit weißen Gitterbalkons und säulenumstandenem Portal zu erzählen, eines Hauses, in dem angeblich zuerst der SA-Stabschef Ernst Röhm und dann Werner Heisenberg gewohnt habe, flocht Marcus Luzius Babenberg, weil er schon zu lange hatte zuhören müssen, ein, daß ja keine zehn Minuten weiter, nämlich in der Agnesstraße 54, Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes geschrieben habe. Und Diego, so herablassend, wie nur der Überlegene sein kann: Ja, bloß hat, was Spengler da schrieb, noch nicht geheißen Der Untergang des Abendlandes , sondern Umriß einer Morphologie der Weltgeschichte . Und leiser, wie zu sich selbst, fügte er noch hinzu: Genauigkeit darf schon sein. Aber als Diego eine halbe Stunde später Leonie von Beulwitzen ermuntern wollte, zuzugreifen und dazu sagte, er sage es ihr mit Karl Kraus, der in den Letzten Tagen der Menschheit zu Ganghofer sage: Jetzt essen Sie doch, Ganghofer!, da konnte, da mußte Babenberg verbessern, das sage nicht Karl Kraus, sondern Karl Kraus lasse das Wilhelm II. sagen!
Manchmal erholte sich Diego nicht mehr von solchen Einsprüchen. Er zog sich dann früher zurück und immer mit der Formel: Morgen wieder lustig . Daß sich mit dieser Formel Jérôme, der eine Zeit lang König von Westphalen war, von seinen Gelagen verabschiedet hatte, war inzwischen allen bekannt. Erstaunlich war, daß die Dikussionen auch nach Diegos Weggang durchaus weiterbranden konnten. Gundi blieb bis zu jedem Schluß. Da blieb man doch einfach auch. Gundis Attraktivität nahm, wenn Diego einmal weg war, geradezu spürbar zu. Wahrscheinlich bildete sich jeder ein bißchen ein, sie bleibe seinetwegen. Karl von Kahn gestand sich diese Einbildung auf dem Heimweg jedesmal.
Wenn die Abende normal verliefen, also bis tief in die Nächte hinein, rief Diego gewöhnlich am
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