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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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gerade war, ob sie ihn also höre oder nicht: Liebling, ich habe einen wunderbaren Beruf. Helen hörte ihn offenbar nicht oder war gar nicht im Haus, also ging er hinauf unter seine honigfarbenen Lärchenbretter und schrieb die nächste Kunden-Post .
    Ihm war auf der Rückfahrt von Gräfelfing in der U-Bahn eingefallen, es sei Zeit, in jeder Kunden-Post eine Kolumne zu haben unter dem Titel: Wörterbuch für Anleger. Das war ihm eingefallen, als er das Gespräch mit Professor Schertenleib noch einmal durchging. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf, hatte der Professor gesagt. Nach mehr als zwanzigjähriger Anlegepraxis wußte der Professor noch nicht, was ein Leerverkauf ist.
    Karl würde die Kolumne eröffnen mit Leerverkauf . Und notierte gleich: Man kann ein Wertpapier verkaufen, das man noch nicht besitzt. Das nennt man einen Leerverkauf. Jemand glaubt, am 1. März sei die XY-Aktie 100   Euro wert, ich verkaufe sie ihm jetzt für 70   Euro das Stück. Ich habe diese Aktien nicht, ich glaube aber, die Aktie fällt im Preis und wird kurz vor dem 1. März für 60   Euro pro Stück zu kaufen sein. Abgemacht ist: Der Käufer kriegt von mir Aktien für 70   Euro das Stück, die mich, hoffe ich, 60   Euro das Stück gekostet haben werden. Dieser jetzt vereinbarte Verkauf ist ein Leerverkauf. Leerverkauf wäre auch, wenn man die Aktien, die man verkaufen will, mit geliehenem Geld bezahlt. Shorting heißt es in Amerika. Es gehört nicht zu den geringsten Reizen des Handels mit Wertpapieren, daß man etwas verkaufen kann, das man nicht besitzt. Ein Handel also mit virtuellen Werten.
    Er durfte hoffen, der Herr Professor, der die Kunden-Post immer las, werde diese Ausführlichkeit zu schätzen wissen. Und werde bleiben.
    Die Enkel kamen ihm so nah, daß sie schielten. Das war der Satz, den Karl nicht loswurde. Seine Enkelinnen Tanja und Sonja hatte er noch nie gesehen.
    Helen klopfte an, und Karl dachte wieder einmal, daß er diese am Anfang eingeführte Formalität längst hätte abschaffen müssen. So wie sie sich NWG, die Neue Wohngemeinschaft, genannt hatten, so hatten sie damals, um auszudrücken, wie selbständig jeder weiterhin sei, das Anklopfen eingeführt. Dazu gehörte, daß nicht angeklopft und sofort eingetreten wurde, es wurde gewartet, bis von drinnen ein Ja kam. Aber in diesem Ja konnten Stimmungen ausgedrückt werden. Jetzt zum Beispiel jubelte Karl ein Ja hoch, das Helen signalisierte, wie willkommen, erwartet und herbeigesehnt sie sei. Formalitäten sind eben doch etwas wert.
    Das Vergißmeinnichtblaßblau ihrer Augen beschwor das Gundi-Türkis herauf. Gundis Türkis, das reine Eis, Helens Vergißmeinnichtblaßblau, die Wärme selbst. Ihr Blondhaar hatte sie hinten hochgesteckt, daß es frech aussah, und ihre Lippen lagen so aufeinander, daß die Oberlippe besonders deutlich nach links und die Unterlippe nach rechts schaute. So deutlich überkreuz, das hieß, sie war übermütig. Und das hieß bei Helen, Karl durfte sie an der Hand nehmen, sie zu sich herziehen und sein Kinn in ihren Haaren reiben, so fest, wie er wollte.
    Sie blieben eine Zeit lang so, dann sagte sie, sie wolle ihm, wenn sie dürfe, vorlesen, was sie heute dem Erfolgreichen Patienten als Schluß entworfen habe.
    Karl imitierte die Geste, mit der Professor Schertenleib ihn eingeladen hatte, das Gespräch zu eröffnen. Helen las:
    Jeder Körper trachtet nach Unsterblichkeit. Das unüberschaubare Zusammenwirken aller körperlichen Systeme ist daran interessiert, daß es weitergeht. Weil wir vergessen haben, wovon wir bestimmt werden, hat sich die Kulturlegende eingebürgert, der Mensch als geistiges Wesen sei an der Unsterblichkeit interessiert. Dabei ist es der Hort des Lebens, der Körper, der überleben will. Ich rate dir, dich zu vergessen. Selbstbewußtsein ist ein sinnloses Wort. Wenn du immer an etwas denkst, was du nicht bist, wirst du gesund. Am meisten ist das Leben sich selbst überlassen im Schlaf. Deshalb ist der Schlaf das Heilende schlechthin. Wenn wir schlafen, können wir dem Leben nicht dreinpfuschen. Aber es gibt einen Schlaf, in dem die Träume toben. Da setzt sich der Wachzustand in einer übertreibenden Entfesselung fort. Das Wirkliche, unbewacht, gerät außer Rand und Band. In dem Schlaf, der das erleiden muß, ist das Heilende bedroht. Und trotzdem wirkt es noch. Das Toben der Träume drückt aus den Kampf des Schlafes gegen den Einbruch einer nicht mehr zu kontrollierenden Wirklichkeit. Also

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