Angstblüte (German Edition)
hinter einer Hausruine in Deckung gehen, der Panzer schoß, zerschoß ihm das rechte Bein, im linken Arm Granatsplitter, halb im Dusel hat er mit seinem umgehängten Funkgerät Hilfe herrufen wollen, das Gerät war zersplittert. Er hatte Angst, Angst, daß die Russen kommen und ihn noch gar totschlagen, da rennt sein Kompaniechef her und schleift ihn in einer Zeltplane zurück, im Behelfslazarett am Stadtrand wird amputiert, er liegt tagelang, wieviel Tage weiß er nicht, in einen Zementsack verschnürt in einem ausgetrockneten Abwasserkanal und wird, bevor die Russen den Flugplatz Pitomir erobern, ausgeflogen ans Schwarze Meer. Auf dem Heldenfriedhof von Charinki an Gerhards Grab hat er gedacht, daß er nur überlebt hat, weil Gerhard gefallen ist. Beide tot, das hätte die Mutter nicht aushalten können. Bei ihrer Aussegnung sagte der Pfarrer, daß man dem Herrn lebe und sterbe, und nicht für sich. Stimmt nicht, hat er gedacht, seine Mutter hat nicht dem Herrn gelebt, sondern ihren Zwillingen. Was die Söhne gesagt und getan haben, war immer richtig. Sie hat nie eine Sekunde an Gerhard oder an ihm gezweifelt. Ihretwegen hat er überleben müssen. Daß man dem, was man nicht begreift, einen Sinn geben muß, weiß nur, wer mit der Sinnlosigkeit zu tun gehabt hat. Im Opfertod seine Erfüllung. Dann die Niederlage. Dann hat man erst zur Gänze erfahren, was für ein Drecksregime das war. Und wenn die in Stalingrad ihm das Bein nicht zerschossen hätten, wäre er überhaupt nicht mehr herausgekommen. Also hat er Glück gehabt.
Sag doch nicht immer Heldenfriedhof, sagte Mildred.
Die Enkel hatten große Augen. Jost sagte, man müsse einen Irrtum nicht lebenslänglich beibehalten.
Einen Irrtum! Da hat er sagen müssen, daß es nicht jedem gegeben sei, die eigene Biographie so zu optimieren, wie es Josts Vater gelungen sei. Zuerst Oberscharführer, dann evangelische Theologie, dann Pfarrer, und als es doch brenzlig zu werden drohte, Pfarrer in Südafrika und eine Schwarze geheiratet.
Folgte ein wüster Streit. Er bestand auf der ihm vorgeworfenen Unbelehrbarkeit. Er hat der Bande ihre Ignoranz nicht erlebbar machen können. Der Geburtstag ist ausgefallen. Er muß fort. Aber er will auch.
Zurück auf den Kissen seines Sessels, ließ er die Finger auf den Lehnen Klavier spielen. Und bat Karl von Kahn um Auskunft.
Karl war vorbereitet. Er hatte die Nenn- und die Kurswerte verglichen, er hätte Summen aufsagen können. Er hätte nicht ohne Zufriedenheit melden können, daß er aus einem Einsatz von nicht ganz einhunderttausend Mark einen Depotwert von fast drei Millionen Euro erwirtschaftet hat. Und das ohne je auch nur einen einzigen Euro in eine Firma investiert zu haben, die mit Waffenproduktion oder -verkauf zu tun gehabt hätte. Rheinmetall, Krauss-Maffei oder gar EADS hatte Karl von Kahn zu meiden. Eine Firma, in der mit Lenkflugkörpersystemen experimentiert wurde, kam nicht in Frage.
Doch der Professor mußte, auch als er saß, noch einmal von der Familienschlacht sprechen. Nach drei Uhr in der Nacht hat Mildred gerufen, daß jetzt Frieden sei zwischen uns. Sie hatte von allen am meisten getrunken. Die Enkel waren schon im Bett. Toleranz, rief sie, Toleranz für alle und alles. Volle Anerkennung einer unbehebbaren Unvereinbarkeit.
Diesem Zapfenstreich sei allerdings noch vorausgegangen ein Themenwechsel, weg vom Krieg, hin zu des Professors Arbeit für die Kraftwerkunion . Jetzt stellte sich heraus, daß die Tochter Mildred als Kind Todesängste ausgestanden hat, wenn der Vater damals beim Abendessen die Unsicherheits-Philosophie der KWU zum besten gab. Was passiert in den ersten zehn Sekunden nach einem Riß der Primärrohrleitung, aufgeteilt in Zehntel- und Hundertstelsekunden? Kommt das Reservekühlwasser überhaupt noch bis an die Brennstäbe? Die Absorberstäbe können die Reaktion bis auf drei Prozent herunterdrücken, wenn sie nicht auch gleich einschmelzen in der ersten Zehntelsekunde, in der das Kühlwasser fehlt. Und drei Prozent von vier Millionen Kilowatt sind noch einhundertzwanzigtausend Kilowatt, eine Wärmemenge, die den Außenbehälter mit einem Fünzigtonnenschub in die Höhe hebt und, je nach Windrichtung und -stärke, eine zwei Kilometer breite und fünfzehn Kilometer lange Todesschneise zieht. Da überlebt nichts. Das rezitierte Mildred wortwörtlich. Das konnte sie auswendig. Was Mildred nicht mitkriegte, ist, daß ihr Vater dafür gearbeitet hat, dieses Szenario zu verhindern. Und es ist
Weitere Kostenlose Bücher