Angstblüte (German Edition)
einem Brett, das quer über den Billard-Tisch gelegt war, eine Urne. Die Urne. Der Billard-Tisch war Ereweins letztes Werk. Täglich hat er seine Karambolage gespielt. Als Karl einmal gestaunt hatte über dieses Alleinspielen, hatte Erewein gesagt: Man kann sich auch selber besiegen.
Links und rechts von der Urne je drei Kerzen. Brennende. Dann lag da noch eine flache, verschnürte Schachtel. Auf der Schachtel eine Pistole. Die Pistole. Und ein kleines rotes Buch.
Frau Meschenmoser flüsterte Karl ins Ohr: Sie hört gar nicht mehr auf.
Drei Jahre hat Erewein an dieser Orgel gebaut, dachte er.
Frau Meschenmoser lenkte Karl durch sanfte Gesten zur Urne hin, deutete auf die Schachtel, auf die Pistole und auf das Buch und sagte: Für Sie. Der Herr Doktor habe ihr das im Brief aufgetragen. Die Schachtel, die Pistole und das Buch seien seinem Bruder zu geben. Sie versenkte alles in eine Plastiktüte, die hielt sie Karl hin. Dann nickte sie und ging.
Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie Frau Lotte mitgeteilt hätte, daß der Bruder des Herrn Doktor da sei. Er ging so langsam wie möglich in Frau Lottes Zimmer, trat hinter die Spielende und hoffte, sie werde irgendwann bemerken, daß jemand hinter ihr stehe. Wohin mit der Plastiktüte? Noch einmal in den Flur. Und wieder zurück zur Orgelspielerin. Sie trug immer weite, dunkle Blusen. Ihre Haare kämmte sie immer nach hinten und ließ sie dort in einem den Rücken hinunterfallenden, starr wirkenden Zopf enden. Sie sah gern aus wie aus der Vergangenheit, ohne daß man hätte sagen können, aus welcher.
Als Erewein sein Atelier noch in einem der vier Zimmer der Wohnung hatte, stellte sich heraus, daß Frau Lotte nicht alle Arbeitsgeräusche Ereweins gleich gut ertragen konnte. Hämmern und Sägen hat sie nicht nur ertragen, sondern genossen. Aber Bohren ging ihr auf die Nerven. Zum Glück haben die Häuser in der Steinstraße ins Grüne reichende Hinterhöfe. Erewein baute sich dort seine Atelierwerkstatt unter die hohen Bäume.
Frau Lottes Orgelspiel war auch eine Art Mitteilung. Sie sagte ihm durch ihr Spiel alles, was sie ihm sagen konnte.
Karl ging.
In seinem Zimmer legte er die Pistole in die unterste Schreibtischschublade. Zu Streichholzschachteln und Zigarettenspitzen aus seiner Raucherzeit, zu Tintengläsern, in denen die Tinte vertrocknet war, zu unbrauchbar gewordenen Klebestreifen. Alles Zeug, das längst weggeworfen gehört hätte. Da paßte sie hin.
Er löste die Verschnürung der Schachtel. Dann las er.
Lieber Karl,
zu dem, was bevorsteht, gibt es kein Verhältnis. Also kann ich nichts falsch machen. Auch nichts richtig machen. Nur daß Du weißt, wie es soweit gekommen ist.
Was ich schon vor längerer Zeit über unseren Großvater notiert habe, lege ich dazu. Das bin ich Dir immer noch schuldig. Dir und Fanny und Tanja und Sonja. Ich bin Onkel und Großonkel. Es ist eine Pflicht.
Zuerst mein Fall.
Ich konnte nachts nie allein sein. Ich weiß nicht, warum. Es hat immer jemand in der Nähe sein müssen. Am liebsten im gleichen Zimmer. Die Vorstellung, daß niemand da wäre, durfte ich nicht zulassen. Ich glaubte, ich würde, wenn niemand da wäre, schreien.
Als Lotte in die Klinik mußte, bin ich einfach mitgegangen. Die sind fortschrittlich dort. Nußbaumer Straße.
Zehn Tage Vorbereitung auf die Operation. In die Intensivstation, achtundvierzig Stunden, würde ich nicht mitdürfen. Ich habe es der Oberärztin sagen können. Daß Du es gleich weißt: Sie heißt Márfa, sie ist neunundvierzig Jahre alt, und immer wenn Lotte beim Röntgen war, hat sie hereingeschaut. Das war nicht nötig. Tagsüber kann ich allein sein, will ich allein sein. Sie hat gelächelt, als ich fragte, wie sich das organisieren lasse, Lotte auf der Intensivstation, zwei Nächte lang. Sie hat gesagt, sie werde das organisieren. Ich kann Dir ihre Augen nicht beschreiben. In einem Gesicht aus flachen Bögen. Auch die Augenhöhlen flach. Sie hat bei unserem Vetter Gero studiert. Ja, in Göttingen. Frag ihn nach Márfa. Márfa genügt, hat sie gesagt. Zu mir hat sie gesagt: Sprich meinen Namen aus. Hab ich getan. Sie ist dann gekommen, hat sich ans Bett gesetzt, wir haben geredet, bis es hell geworden ist, dann ist sie gegangen, vorher hat sie mich noch auf die Stirn geküßt. Ganz leicht. Wenn sie lächelte, lösten sich ihre Lippen voneinander. Eine Art Zeitlupenvorgang.
Vielleicht ist das ein russischer Zauber. Ich brauche Ausreden. Auch wenn ich Dir ihre Augen beschreiben
Weitere Kostenlose Bücher