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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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könnte, wüßtest Du nichts von ihrem Blick. Steppe, Großstadt, Nacht, Nacht ohne Sterne. Lotte und ich waren immer ein zusammengepreßtes Paar. Die Distanz, die zur Betrachtung nötig ist, fehlte. Weil ich weiß, wohin dieses Schreiben führt, höre ich auf, wenn ich begreiflich werde. Ich muß unbegreiflich bleiben. Auch mir selber. Márfa neunundvierzig, ich neunundsiebzig. Gerade noch neunundsiebzig. Achtzig will ich nicht sein. Nicht unter solchen Umständen. Wenn Lotte das ahnte, das erführe, das wüßte … Sie würde sich so aufführen, daß die Leute vor ihr davonrennen würden. Ich habe Lotte nie betrügen müssen. Márfa ist aus Sebastopol. Ich war einen Monat lang in Sebastopol beziehungsweise vor Sebastopol. Wir haben Sebastopol belagert, kaputtgeschossen, eingenommen, dann natürlich wieder verloren. Lotte hat nicht achtundvierzig, sondern zweiundsiebzig Stunden auf der Intensivstation bleiben müssen. Sie war in Lebensgefahr. Und ob die Operation dauerhaft hilft, hat man nicht gewußt. Márfa und ich haben in der zweiten Nacht und in der dritten geschlafen, miteinander.
    Als wir in die Steinstraße zurückgekommen sind, habe ich gemerkt, daß nichts möglich ist. Ich habe Lotte geschrieben, daß ich nicht aufzählen kann, womit ich nicht fertig werde. Ich habe Márfa geschrieben. Vom Mai 45 weiß sie nichts. Auch unter den günstigsten Umständen könnte ich ihr nicht sagen, was ich im Mai 45 getan habe. Zum Überlegen blieb keine Zeit. Meine Leute haben mich wegziehen müssen.
    Lieber Karl, ich weiß, wie unangenehm Dir Beerdigungen sind. Je mehr Du mit einem Menschen zu tun hattest, um so unangenehmer war Dir immer die Beerdigung. Ich stimme Dir zu. So sind wir eben. Es ist ein Segen, daß man an der eigenen Beerdigung nicht teilnehmen muß. Lotte wird viel Zeit an der Orgel verbringen. Die Bestrahlungen werden, sagt der Professor, erfolgreich sein. Deinem Freund Diego mußt Du nichts erzählen. Ich weiß, er ist Dein bester Freund. Ich habe das nicht verstehen müssen. Mit wem ein uns Nahestehender befreundet ist, muß man genausowenig verstehen wie, mit wem jemand verheiratet ist.
    Es mag sich ausgewirkt haben, daß Diego mich nie wahrgenommen hat. Er hat mich beschäftigt, bezahlt, gelobt, aber er hat mich nicht wahrgenommen. Nie vergeß ich unser Mittagessen im Neuner . Du, Diego und ich. Wir hatten gerade den letzten Katalog der Dinge herausgebracht. Lebhafte Nachfrage. Sozusagen Erfolg. Er hat während des ganzen Essens kein einziges Mal einen Satz an mich gerichtet. Immer an Dich. Geredet hat fast ausschließlich er. Glaub mir, das ist nicht vorwurfsvoll gemeint. Ich habe ihn nicht interessiert. Er war nicht der einzige, den ich nicht interessiert habe. Frau Meschenmoser dagegen vibriert vor Neugier auf alles, was ich mache. Dein Diego hatte ziemlich schnell ziemlich viel Geld. Geld macht ehrlich. Er konnte es ungeniert deutlich werden lassen, daß er sich nicht für mich interessiert. Das ist unvermeidlich, daß Du Dich, wenn Du es Dir leisten kannst, gehenläßt. Als ich damals aus dem Neuner zurückkam zu Frau Lotte, war ich erregt. Wie ich zu allen stehe, habe ich gesagt, käme erst heraus, wenn ich genug Geld hätte. Solange ich nicht genug Geld habe, habe ich gesagt, kann keiner sagen, er wisse schon, wie ich zu ihm stehe. Wenn ich erst genug Geld haben werde, habe ich gesagt, werdet ihr mich kennenlernen. Frau Lotte hat gelacht. Ich auch. Ihr zuliebe. Ich bin mir vorgekommen wie ein Diego-Imitat. Damit Du, lieber Bruder, nicht glaubst, ich sei nichts als beleidigt, muß ich Dir eine Beobachtung mitteilen, deren, sagen wir, Richtigkeit Du, bitte, an Deinen eigenen Beobachtungen messen kannst. Das heißt, deren Unrichtigkeit Du jederzeit durch Deine eigenen Beobachtungen beweisen kannst. Es geht immer noch um Diego.
    Nach dem Loire-Schloß-Coup, also als er dann reich geworden war, erstarrte seine Mundpartie zusehends, sie gefror. Das war, bitte, mein Eindruck. Der Mund war jetzt eine Wucht, eine pathetische Wucht. Immer begleitet und verstärkt von einem ebenso massiven Pathosblick. Insgesamt eine Dauerdrohgrimasse. Vorher war er doch öfter lustig, manchmal sogar herzlich gewesen. Sogar zu mir.
    Daraus schließe ich: Reich sein macht häßlich. Das ist keine moralische, sondern eine ästhetische Erfahrung. Und daß Reichsein unanständig ist, ist auch eine ästhetische Erfahrung. Unanständiges kann vielleicht schön sein. Reichsein gehört nicht zum schönen Unanständigen, sondern

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