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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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sofort auf, daß ich nicht weiß, wie man es besser machen könnte. Ich möchte nie mehr jemandem widersprechen. Sich Schreie leihen bei den Gequälten, weil man selber nicht mehr zu schreien wagt. Es fehlt das Recht. Ich bin schon zu ausgeräumt. Ich muß anderen mehr zustimmen als sie mir. Das ist eine Erfahrung.
    Ich weiß, daß Du mich für einen Verlierer hältst. Für einen, der unterlegen ist. Für einen Besiegten also.
    Márfa hat gesagt: Wir brauchen niemanden. Sie und ich. Sie hat keine Ahnung von Frau Lotte. Eine solche Altehe wehrt sich nicht, glaubt sie. Sie hat gesagt: Wir ziehen in die Gegend von Tbilissi. Du wirst einhundertneunzehn. Dafür sorge ich. Ihr Großvater war Georgier. Sie ist eine gute Ärztin. Sie kann von Lotte wegdenken. Du mußt in den Osten denken, sagt sie. Laß den Westen zurück. Vielleicht ist sie auch nur wahnsinnig. Genau wie ich. Wer liebt, muß wahnsinnig sein. Lotte ist das Gesetz, und das Gesetz ist Lotte, und es gibt nichts außer Lotte. Außer Lotte ist alles Wahn. Aber Lotte ist …
    Ich bin besiegt. Immer schon gewesen. Die Sieger haben es ermöglicht, daß der Verlierer ein guter Verlierer sein kann. Er lernt, sich so zu benehmen, daß die Sieger im Genuß ihres Sieges nicht gestört werden. Er hat durch sein Benehmen zu demonstrieren, daß ihm recht geschehen ist. Jeder weiß, wohin er gehört. Der Verfolgungswahn des Verlierers verhilft dem Lorbeer des Siegers zu seinem Immergrün. Der Verfolgungswahn des Verlierers beweist, daß dieser Verlierer ein entsetzlicher Kerl ist. Überall sieht er Verfolger, Unterdrücker, Herrschaft. Er hält sich natürlich für so gut wie die Clique, die sich jeweils in der vollen Gunst der Geschichte räkelt. Eingebaut in die historische Funktion der jeweiligen Clique ist der Schlag, der ihm zu versetzen ist, sobald er sich rührt. Also lernt er, sich nicht mehr zu rühren. Dann ist ihm ein Glück beschieden, das Weltreisen nicht ausschließt.
    Lotte und ich sind aufgenommen in diese Gesetzesmaschine. Márfa hätte diesen weltherrschaftlichen Opportunismusautomaten zerlacht. Die Blume, gewachsen auf dürrem Boden, und das läßt sie vergessen.
    Lieber Karl, nur Du weißt, wie es war, wenn es im Winter geregnet hat, im Flur dann die nassen Mäntel, wie die rochen, im Flur, die nassen Mäntel, wenn es geregnet hat, im Winter, Karl. Als Fische geboren und sterben als Vögel. Als Geborstene ragen wir in die Welt.
    Abschied. Klingt süß. Müßte ein Wort sein wie ein Hieb. Unglück macht trivial. Meine Leute mußten mich wegziehen. Angesichts der Vernichtung gibt es nichts Falsches. Außer dem Leben. Sogar ohne daß ich Dir etwas gesagt habe, hast Du mich immer verstanden. Das glaube ich.
    Leb wohl.
    Dich grüßt immer
    Erewein
    Karl las weiter.
    Über unseren Großvater.
    Am 24. Oktober 1899 wurde der Sang an Aegir an der königlichen Oper in Berlin uraufgeführt. Es war eine Matinee. Die Majestäten, Kaiser Wilhelm und Auguste Viktoria, waren anwesend. Wilhelm wurde gefeiert. Als Komponist. Der Sang an Aegir galt sofort als sein Meisterstück. Bei den Majestäten saßen auch der Fürst und die Fürstin zu Wied. Der Fürst, noch nicht sechzig, aber silberhaarig, Bruder der Königin von Rumänien, Onkel der Königin von Holland, erhob sich jedesmal, wenn der Beifall anschwoll, von seinem Sitz und verbeugte sich vor seinem Neffen Wilhelm. Und so oft er sich erhob und sich verneigte, Wilhelm nahm es jedesmal gnädig entgegen.
    Wilhelms Schwester, die Prinzessin von Meiningen, wollte vom Grafen Moltke, dem Adjutanten des Kaisers, wissen, wer dem Kaiser geholfen habe, diesen fürchterlichen Sang an Aegir zu komponieren. Es ist überliefert, daß Graf Moltke geantwortet hat, das sei ein Staatsgeheimnis. Als sie sich damit nicht zufriedengab, sagte Moltke klipp und klar: Seine Majestät hat das Lied komponiert.
    Ob gute oder schlechte Musik, unser Großvater Friedrich Karl hat an der Komposition des Sangs an Aegir zumindest mitgewirkt. Erstaunlich ist, daß es dem Kaiser erst im Jahr 1899 gelang, seine Komposition in Berlin zur Uraufführung zu bringen. Schon im September 1897 erhielt die Musiklehrerin Hedwig Jaede in Stettin drei Monate Gefängnis, weil sie im Jahr 1894 den Sang an Aegir schlechtes Zeug genannt hatte. Fräulein Jaede richtete ein Gnadengesuch an die Kaiserin, die wagte nicht, den Kaiser damit zu behelligen, weil sie wußte, wie empfindlich er war, wenn er als schaffender Künstler kritisiert wurde. Immerhin versicherte ihm

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