Anleitung zum Alleinsein
sondern ihretwegen kommen. Seltsam war allerdings, dass ich nur halbherzig so tun konnte. Meine Mutter hatte mir die Behinderungen meines Vaters so geschildert, dass es absolut glaubhaft klang, aber dasselbe galt für das Porträt meiner Mutter als nörglerische Unke, wie es mein Vater entwarf. Ich reiste nach St. Louis, weil seine Behinderungen für sie absolut real waren; als ich dann dort war, benahm ich mich, als wären sie das für mich überhaupt nicht.
Ganz wie sie es befürchtet hatte, lag meine Mutter beinahe fünf Wochen im Krankenhaus. Merkwürdigerweise kann ich mich jetzt an kaum eine Besonderheit meines Aufenthalts bei ihm erinnern, obwohl ich mit meinem Vater nie so lange allein gewesen war und es auch nie mehr sein sollte; heute ist mein Eindruck der, dass er vielleicht etwas still war, aber ansonsten ganz normal. Sie mögen nun denken, dass das in direktem Widerspruch zu den früheren Berichten meiner Mutter stand. Und dennoch habe ich keine Erinnerung daran, dass mich dieser Widerspruch gestört hätte. Was ich hingegen habe, ist die Kopie eines Briefs, den ich aus St. Louis an einen Freund schrieb. In dem Brief erwähne ich, dass man die Medikamente meines Vaters angepasst habe, und nun sei alles gut.
Wunschdenken? Ja, in gewissem Maße. Doch eine der Grundeigenschaften des Verstandes ist, dass er aus Bruchstücken unbedingt ein Ganzes machen will. Wir alle haben einen buchstäblich blinden Fleck in unserem Sehfeld, wo der Sehnerv in der Netzhautendet, doch das Gehirn nimmt stets eine nahtlose Welt um uns herum wahr. Wir erfassen den Teil eines Wortes und hören das ganze. Im Blumenmuster eines Bezugsstoffs erkennen wir ausdrucksvolle Gesichter, unablässig füllen wir Leerstellen aus. In gleicher Weise neigte ich wohl dazu, über das Schweigen und die Absencen meines Vaters hinwegzugehen und ihn als denselben alten, gänzlich ganzen Earl Franzen zu sehen. Ich brauchte ihn weiterhin als Akteur in der Geschichte meiner selbst. In dem Brief an meinen Freund beschreibe ich eine Vormittagsprobe des St. Louis Symphony Orchestra, zu der ich auf Drängen meiner Mutter mit meinem Vater ging, damit ihre Freikarten nicht verfielen. Nach der ersten Hälfte, in der die sehr junge Midori das Violinkonzert von Sibelius
nur so herunterfetzte
, sprang mein Vater mit erbärmlicher Greisenunruhe von seinem Sitz auf. «So», sagte er, «wir gehen jetzt.» Ich verkniff es mir, ihn zu bitten, noch zu der nachfolgenden Sinfonie von Charles Ives sitzen zu bleiben, aber sein Banausentum, das es für mich war, erboste mich. Auf der Heimfahrt tat er Midori und Sibelius kurz und bündig ab. «Ich verstehe diese Musik nicht», sagte er. «Was machen die denn – lernen die das auswendig?»
Im selben Frühling wurde dann bei meinem Vater eine kleine, langsam wachsende Krebsgeschwulst in der Prostata diagnostiziert. Seine Ärzte empfahlen ihm, sich gar nicht erst behandeln zu lassen, er aber bestand auf einer Strahlentherapie. In einer Art verschobener Einsicht in seinen Geisteszustand bekam er große Angst, dass etwas Schreckliches mit ihm vorging: dass er nun doch nicht über neunzig werden würde. Meine Mutter, die noch ein halbes Jahr nach ihrer Operation innere Blutungen im Knie hatte, brachte für seine, wie sie es nannte, Hypochondrie nicht viel Geduld auf. Im September 1991 schrieb sie:
Ich bin erleichtert, dass Dad jetzt mit seiner Bestrahlung angefangen hat & sie ihn zwingt,
jeden Tag
[hier ist ein Smiley eingefügt] aus dem Haus zu gehen – ein großes Plus. Er war an einem Punkt angelangt, wo er
so nervös, so ängstlich
, so depressiv war, dass ich wusste, er musste einfach eine Entscheidung treffen. Da er nämlich so viel herumsitzt (froh darüber, nichts zu tun), hat er zu viel Zeit gehabt, sich über sich Sorgen & Gedanken zu machen – er BRAUCHT Ablenkung! … Mehr & mehr bin ich der Meinung, dass die besten Eigenschaften, die jemand haben kann, 1. eine positive Lebenseinstellung & 2. Sinn für Humor sind – wünschte, Dad hätte sie.
Es folgten einige Monate relativer Zuversicht. Der Krebs war bekämpft, das Knie meiner Mutter wurde endlich besser, und ihr angeborener Optimismus kehrte wieder in ihre Briefe zurück. Sie berichtete, mein Vater habe bei einer Partie Bridge gewonnen: «Jetzt, wo er nicht mehr so zerstreut ist & weniger vorsichtig an das Spiel herangeht, ist er erstaunlich gut & und es ist so ungefähr das Einzige, was ihm Freude macht (& ihn wach bleiben
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