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Anleitung zum Alleinsein

Anleitung zum Alleinsein

Titel: Anleitung zum Alleinsein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Franzen
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lässt!).» Doch die Sorge meines Vaters um seine Gesundheit legte sich nicht; er hatte Bauchschmerzen, die seiner Überzeugung nach von einem Krebs herrührten. Nach und nach verlagerte sich das Gewicht der Geschichte, die mir meine Mutter erzählte, vom Persönlichen und Moralischen zum Psychiatrischen. «Während des letzten halben Jahrs haben wir so viele Freunde verloren, das ist schon ganz beunruhigend – zum Teil bestimmt wegen Dads Nervosität & Depressionen», schrieb sie im Februar 1992.   Der Brief ging weiter:
     
    Dads Internist, Dr.   Rouse, hat in Bezug auf die Magenbeschwerden ungefähr das festgestellt (alle klinischen Möglichkeiten hat er ausgeschlossen), was ich schon dieganze Zeit gedacht habe. Dad ist 1. schrecklich nervös, 2. schrecklich depressiv & ich hoffe, Dr.   Rouse verschreibt ihm ein Antidepressivum. Ich
weiß
doch, dass es dagegen etwas geben muss   … Im letzten Jahr hat es beunruhigende, bedrückende Dinge in unserem Leben gegeben, das weiß ich sehr wohl, aber Dads Geisteszustand setzt ihm auch körperlich zu & wenn er schon nicht zur psychologischen Beratung geht (Vorschlag von Dr.   Weiss), lässt er sich ja vielleicht Pillen geben oder was man eben gegen Nervosität & Depressionen braucht.
     
    Eine Weile war «Nervosität & Depressionen» in ihren Briefen eine feststehende Wendung. Prozac schien meinen Vater aufzumuntern, doch die Wirkung blieb von kurzer Dauer. Schließlich willigte er im Juli 1992 zu meiner Überraschung ein, einen Psychiater aufzusuchen.
    Mein Vater war der Psychiatrie gegenüber immer das Misstrauen in Person. Psychotherapie verstand er als einen Eingriff in die Privatsphäre, geistige Gesundheit als eine Frage von Selbstdisziplin und die zunehmend spitzen Vorschläge meiner Mutter, er solle doch einmal «mit jemandem reden», als Akte der Aggression – kleine Handgranaten der Schuldzuweisung, weil sie als Paar so unglücklich waren. Dass er freiwillig einen Fuß in eine Psychiatriepraxis setzte, war Ausdruck seiner Verzweiflung.
    Im Oktober, als ich vor meiner Abreise nach Italien noch in St.   Louis Station machte, fragte ich ihn nach seinen Besuchen bei dem Arzt. Er machte eine hoffnungslose Geste mit der Hand. «Er ist ungeheuer kompetent», sagte er. «Aber leider hat er mich abgeschrieben.»
    Die Vorstellung, dass jemand meinen Vater abgeschrieben hatte, überstieg meine Kräfte. Von Italien aus schickte ich dem Psychiater einen dreiseitigen Appell, es sich noch einmal zu überlegen, doch während ich noch daran schrieb, brach zu Hausealles zusammen. «So ungern ich Dir das mitteile», schrieb meine Mutter in einem Brief, den sie mir nach Italien faxte, «Dads Zustand hat sich dramatisch verschlimmert. Medikamente gegen das Harnproblem, die ihm ein Urologe verschrieben hat, und gleichzeitig Medikamente gegen Depressionen und Nervosität, das hat ihn wieder umgehauen, und die Halluzinationen usw. waren schrecklich.» Sie waren ein Wochenende bei meinem Onkel Erv in Indiana gewesen, wo mein Vater, aus seiner vertrauten Umgebung gerissen, eine Nacht des Wahnsinns entfesselte, die darin kulminierte, dass mein Onkel ihn anbrüllte:
«Earl, Herrgott, ich bin dein Bruder Erv, wir haben früher mal in einem Bett geschlafen!»
Zurück in St.   Louis, hatte mein Vater dann begonnen, gegen die pensionierte Dame zu wettern, Mrs.   Pryble, die meine Mutter angestellt hatte, damit sie zwei Tage in der Woche, während sie selbst Besorgungen machte, bei ihm war. Er sah nicht ein, warum jemand bei ihm sein musste, und wenn er die Notwendigkeit dazu dann doch erkannte, sah er nicht ein, warum statt seiner Frau eine Fremde das tat. Er war ein klassischer «Sundowner» geworden, verdöste den Tag und tobte zu nachtschlafender Zeit.
    Bald darauf folgte ein trübseliger Feiertagsbesuch, bei dem meine Frau und ich die Sache endlich meiner Mutter aus der Hand nahmen und ihr eine Altenpflegekraft vermittelten, und meine Mutter bekniete meine Frau und mich, meinen Vater so auf Trab zu halten, dass er nachts ohne einen psychotischen Anfall würde durchschlafen können, und mein Vater saß mit versteinerter Miene am Kamin oder erzählte finstere Geschichten aus seiner Kindheit, während meine Mutter sich wegen der Ausgaben, der untragbaren Ausgaben für die Pflegekraft sorgte. Aber soweit ich mich erinnere, redete auch da noch niemand von «Demenz». In allen Briefen, die meine Mutter an mich schrieb, kam das Wort «Alzheimer» genau einmal vor, und da bezog sie es

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