Anleitung zum Alleinsein
den ersten Jahren seines geistigen Verfalls kann ich nur eine einzige Erinnerung abrufen: wie er sich einmal, am Ende der Achtziger, daran abmühte und letztlich scheiterte, bei einer Restaurantrechnung die Höhe des Trinkgeldes zu berechnen.
Zum Glück war meine Mutter eine eifrige Briefeschreiberin. Die Passivität meines Vaters, die ich bedauerlich fand, mich aber nicht weiter kümmerte, war für sie eine Quelle bitterer Enttäuschung. Bis zum Herbst 1989 – einer Zeit, in der mein Vater ihren Briefen zufolge noch Golf spielte und größere Reparaturen am Haus erledigte – waren ihre Klagen rein persönlicher Natur:
Es ist äußerst schwierig, mit einem sehr unglücklichen Menschen zusammenzuleben, wenn man weiß, dass man die Hauptursache dieses Unglücks ist. Schon vor
Jahrzehnten
, als Dad zu mir sagte, er glaubt nicht an so etwas wie Liebe (dass Sex eine «Falle» ist) und dass er nicht dazu taugt, ein «glücklicher» Mensch zu sein, hätte ich so klug sein müssen zu erkennen, dass keine Hoffnung auf eine Beziehung bestand, die
mich
erfüllen würde. Aber ich war sehr beschäftigt & mit meinen Kindern und Freundinnen zugange, die ich ja liebte, und vermutlich habe ich mir wie Scarlett O’Hara gesagt, das soll «morgen meine Sorge sein».
Dieser Brief stammt aus einer Periode, in der sich der Schauplatz der elterlichen Kampfhandlungen auf das Thema seiner Hörschwäche verlagert hatte. Meine Mutter behauptete, es sei rücksichtslos, kein Hörgerät zu tragen; mein Vater beschwerte sich darüber, dass es anderen Leuten an der Rücksicht mangele, «lauter» zu sprechen. Die Schlacht endete mit einem Pyrrhussieg, da er sich ein Hörgerät kaufte, das er dann aber nicht tragen wollte. Auch diesmal baute meine Mutter daraus eine moraltriefende Geschichte über seine «Sturheit» und «Eitelkeit» und seinen «Defätismus», doch rückblickend fällt es schwer, nicht zu argwöhnen, dass er sein schlechtes Gehör schon damals benutzte, um ernstere Schwierigkeiten zu kaschieren.
In einem Brief vom Januar 1990 nimmt meine Mutter erstmals auf diese Schwierigkeiten Bezug:
Letzte Woche konnte er einmal seine Morgenmedikamente nicht nehmen, weil er ein paar Verkehrstauglichkeitsprüfungen an der Wash. U. machen sollte, wo er an der Gedächtnis-&-Altern-Studie teilnimmt. In der folgenden Nacht wachte ich vom Geräusch seines Elektrorasierersauf, sah auf den Wecker & da stand er morgens um halb drei im Bad und rasierte sich.
Binnen weniger Monate unterliefen meinem Vater dann schon so viele Fehler, dass meine Mutter gezwungen war, andere Erklärungen zu bemühen:
Entweder ist er überanstrengt oder unkonzentriert, oder es sind irgendwelche geistigen Aussetzer, aber in letzter Zeit hat es immer wieder Vorfälle gegeben, die mir richtig Sorgen machen. Ständig lässt er die Autotür offen oder die Scheinwerfer an & zweimal in einer Woche mussten wir den Autoclub rufen & die Batterie aufladen lassen (ich habe in der Garage jetzt Zettel angebracht & das scheint geholfen zu haben) … Ich würde ihn nicht gern länger als eine kleine Weile allein im Haus lassen.
Die Angst meiner Mutter, ihn allein zu lassen, nahm im Lauf des Jahres an Heftigkeit zu. Ihr rechtes Knie war kaputt, und weil sie von einem früheren Bruch schon eine Stahlplatte im Bein hatte, stand ihr eine komplizierte Operation mit anschließender längerer Genesungsphase und Reha bevor. Ihre Briefe von Ende 1990 bis Anfang 1991 sind voller Passagen, in denen sie sich verzweifelt den Kopf zermartert, ob sie sich nun operieren lassen solle und, wenn ja, was sie dann mit meinem Vater machen werde.
Wäre er länger als eine Nacht allein zu Hause und ich in der Klinik, ich wäre ein einziges Nervenbündel, weil er das Wasser laufen lässt, manchmal den Herd nicht ausstellt, überall brennt Licht usw. … In letzter Zeit kontrolliere ich alles, so gut ich eben kann, aber auch so herrscht bei uns ein einziges Durcheinander & wirklich am schwersten ist sein Ärger darüber, dass ich dazwischenfunke – «halt dichaus meinen Sachen raus!!!». Er akzeptiert oder erkennt nicht, dass ich ihm doch
helfen will
& das ist für mich das Allerschwerste.
Zu der Zeit hatte ich gerade meinen zweiten Roman beendet, also bot ich meiner Mutter an, bei meinem Vater zu bleiben, solange sie ihrer Operation wegen nicht zu Hause war. Um seinen Stolz nicht zu verletzen, vereinbarten sie und ich, so zu tun, als würde ich nicht seinetwegen,
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