Anleitung zum Unglücklichsein (German Edition)
rein rhetorisch, denn es gibt keinen Ausweg. Was tut die Frau, deren Mann von ihr nicht nur fordert, sich ihm sexuell jederzeit hinzugeben, sondern es jedesmal auch voll zu genießen? Was tut man, wenn man in der Haut des eben erwähnten Jungen steckt, der seine Aufgaben gerne machen sollte? Man nimmt an, daß es entweder mit einem selbst oder mit der Welt nicht stimmt. Da man in der Auseinandersetzung mit »der Welt« aber meist den kürzeren zieht, ist man praktisch gezwungen, die Schuld in sich selbst zu suchen. Das klingt noch nicht sehr überzeugend, nicht wahr? Keine Angst, Ihr Zweifel läßt sich mit Leichtigkeit zerstreuen.
Stellen Sie sich einfach vor, Sie werden in eine Familie hineingeboren, in der – aus welchen Gründen auch immer – Fröhlichkeit Pflicht ist. Genauer ausgedrückt, eine Familie, in der die Eltern dem Grundsatz huldigen, daß ein sonniges Gemüt des Kindes der offensichtlichste Beweis elterlichen Erfolges ist. Und nun seien Sie einmal schlechter Laune, oder übermüdet, oder haben Sie Angst vor dem Turnunterricht, dem Zahnarzt oder der Dunkelheit, oder keine Lust, Pfadfinder zu werden. So wie Ihre lieben Eltern das sehen, handelt es sich nicht einfach um eine vorübergehende Laune, Müdigkeit, die typische Angst eines Kindes oder dergleichen, sondern um eine wortlose, aber um so lautere Anklage der erzieherischen Unfähigkeit der Eltern. Und dagegen werden sie sich verteidigen, indem sie Ihnen aufzählen, was und wieviel sie für Sie getan haben, welche Opfer sie zu bringen hatten und wie wenig Grund und Recht Sie daher haben, nicht fröhlich zu sein.
Nicht wenige Eltern bringen es dann zu meisterhaften Weiterentwicklungen, indem sie dem Kinde zum Beispiel sagen: »Geh auf dein Zimmer, und komm mir nicht heraus, bis du wieder guter Laune bist.« Damit ist in überaus eleganter, da indirekter Weise klar ausgedrückt, daß das Kind es mit etwas gutem Willen und einer kleinen Anstrengung fertigbringen könnte, seine Gefühle von schlecht auf gut umzuprogrammieren und durch die Innervation der richtigen Gesichtsmuskeln jenes Lächeln zu erzeugen, das ihm die Aufenthaltsbewilligung als »guter« Mensch unter »guten« Menschen wiederverleiht.
Diese einfache Taktik, durch die (ähnlich wie Knoblauch und Liebe) Traurigkeit und moralische Minderwertigkeit – vor allem Undankbarkeit – untrennbar miteinander verpanscht werden, ist von großer Bedeutung für unser Thema. Sie ist hervorragend geeignet, im anderen tiefe Schuldgefühle zu erzeugen, die dann ihrerseits zusätzlich zu Gefühlen erklärt werden können, die er nicht haben würde, wenn er ein besserer Mensch wäre. Und sollte er die Unverschämtheit besitzen, zu fragen, wie man denn seiner Gefühle in der geforderten Weise Herr werden könne, so empfiehlt sich der schon erwähnte Hinweis, daß ein guter Mensch das von sich aus weiß und nicht erst fragen muß. (Bitte dabei Augenbrauen hochziehen und traurig dreinschauen.)
Wer diese Ausbildung erfolgreich bestanden hat, kann dann dazu übergehen, Depression in Eigenregie zu erzeugen. Dagegen ist es verlorene Liebesmühe, bei in dieser Hinsicht untrainierten Menschen Schuldgefühle erwecken zu wollen. Das sind nämlich jene Dickhäuter, die Gefühlsverstimmungen zwar genauso kennen wie die Traurigkeitsexperten, die aber schon immer der Ansicht sind, daß gelegentliche Traurigkeit ein unvermeidbarer Teil des Alltagslebens ist; daß sie kommt und geht, wer weiß, wieso; und daß sie, wenn nicht heute abend, dann halt morgen früh wieder vergangen sein wird. Nein, was die Depression von dieser Art der Traurigkeit unterscheidet, ist die Fähigkeit, das in der Kindheit Anerzogene später selbständig anzuwenden, indem man sich vorhält, weder Grund noch Recht zur Traurigkeit zu haben. Das garantierte Ergebnis ist die Vertiefung und Verlängerung der Depression. Und derselbe Erfolg winkt außerdem auch jenen Mitmenschen, die der Stimme des gesunden Menschenverstandes und den Eingebungen ihres Herzens folgend dem Betreffenden gut zureden, ihn aufmuntern und ein bißchen zum Sichzusammenreißen ermutigen. Damit nämlich hat das Opfer nicht nur seinen eigenen, entscheidenden Anteil zur Depression geleistet, sondern kann sich doppelt schuldig fühlen, weil es nicht an der rosig-optimistischen Weltschau der anderen teilnehmen kann und damit deren gute Absichten so bitter enttäuscht. Schon Hamlet war sich des peinvollen Unterschiedes zwischen dem Weltbild des Melancholikers und jenem
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