Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Mein Dad konnte die ganze Zeit nur noch an Maschinen denken und an Wesen, deren Lippen aufsprangen, wenn sie den Mund öffneten. Bei der Anmietung des Hauses, in das wir zogen, ließ er nicht sehr viel Sorgfalt walten, und natürlich verschwieg ihm der Vermieter, dass dort eine Frau und ihr ungeborenes Kind gestorben waren, nachdem der Ehemann sie die Treppe hinabgestoßen hatte. So was erzählt man neuen Mietern eben nicht gern.
Geister sind komisch. Als atmende Wesen mögen sie ja vielleicht relativ normal gewesen sein, aber sobald sie sterben, sind sie völlig besessen. Sie fixieren sich auf das, was ihnen passiert ist, und verharren in diesem schlimmsten Augenblick ihres Daseins. In ihrer Welt existiert nichts mehr außer der Messerklinge
oder dem Gefühl, wie sich ihre Finger um eine Kehle schließen. Außerdem neigen sie dazu, den Lebenden diese Fixierung auf meist sehr drastische Weise vorzuführen. Wenn man die Hintergründe kennt, kann man leicht vorhersagen, was sie tun werden.
An jenem Tag in Portland half mir meine Mutter gerade dabei, die Umzugskartons in mein neues Zimmer zu tragen. Damals benutzten wir noch die billigen Kartons, und es regnete. Die meisten Kartons waren weich geworden wie Müsli in der Milch. Ich weiß noch, wie ich darüber lachte, dass wir so nass wurden und dass wir schuhförmige Pfützen im Eingangsbereich hinterließen. Wir polterten herum, dass man hätte meinen können, eine Horde unterzuckerter Golden Retriever zöge ein.
Beim dritten Aufstieg in den ersten Stock passierte es dann. Ich tappte mit den Schuhen umher und hinterließ Dreckspuren, und ich hatte gerade den Baseballhandschuh aus dem Karton genommen, weil er keine Wasserflecken bekommen sollte. Da spürte ich es – auf der Treppe huschte etwas an mir vorbei und streifte leicht meine Schulter. Die Berührung wirkte weder zornig noch eilig. Wegen dem, was gleich danach geschah, habe ich niemandem davon erzählt. Es fühlte sich mütterlich an, als wollte mich jemand vorsichtig zur Seite schieben. Damals dachte ich zuerst, meine Mom hätte spielerisch nach meinem Arm gegriffen, und drehte mich breit grinsend um. In diesem Moment verwandelte sich der Geist dieser Frau von einem Lufthauch in einen Dunstschleier. Sie trug eine
Art Bettlaken, und ihre Haare waren so bleich, dass ich durch den Hinterkopf hindurch ihr Gesicht erkennen konnte. Ich hatte schon vorher Gespenster gesehen. Als Sohn meines Vaters war das für mich so normal wie Hackfleischbällchen am Donnerstag. Aber ich hatte noch nie gesehen, wie ein Gespenst meine Mutter von der Treppe stieß.
Ich wollte nach ihr greifen, doch am Ende hatte ich nur einen abgerissenen Fetzen Pappe in der Hand. Meine Mom stürzte, und das Gespenst schwebte triumphierend über ihr. Ich konnte die Miene meiner Mutter durch das wehende Laken erkennen. So seltsam es klingt, ich konnte sogar ihre oberen Backenzähne erkennen, als sie im Fall den Mund aufriss. Sie hatte dort zwei Füllungen. Genau daran denke ich immer, wenn ich mich an diesen Vorfall erinnere: dieses komische, unbehagliche Gefühl beim Anblick der Plomben im Mund meiner Mutter. Sie landete mit dem Hintern auf der Treppe und machte leise »oh«, dann rollte sie weiter hinab und prallte unten gegen die Wand. Danach weiß ich nichts mehr. Mein Vater hat das Gespenst natürlich erledigt – wahrscheinlich noch am gleichen Tag –, aber ich erinnere mich an nichts weiter, was in Portland geschah. Ich weiß nur, dass mein Vater kurz danach begonnen hat, zuerst Tybalt einzusetzen, der damals noch ein Kätzchen war. Und Mom humpelt heute noch an Tagen, bevor ein Gewitter aufzieht.
Tybalt beäugt die Decke und schnüffelt an den Wänden. Gelegentlich zuckt sein Schwanz. Wir folgen ihm,
während er die ganze untere Etage überprüft. Im Bad werde ich ungeduldig, weil er den Eindruck erweckt, er habe seine Aufgabe vergessen und wolle sich lieber auf den kühlen Kacheln zusammenrollen. Als ich mit den Fingern schnippe, schaut er mich vorwurfsvoll an, erhebt sich aber und setzt die Inspektion fort.
Auf der Treppe zögert er. Ich mache mir deshalb keine Sorgen. Gefährlich wird es erst, wenn er die leere Luft anfaucht oder sich still hinsetzt und in die Ferne starrt. Zögern bedeutet gar nichts. Katzen können Geister erkennen, aber sie sind keine Hellseher. Wir folgen ihm die Treppe hinauf, und ich fasse aus Gewohnheit meine Mutter bei der Hand. Die große Ledertasche habe ich mir über die Schulter gehängt. Der Athame
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