Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
schlimm, und seit ich den Anhalter erledigt habe, haben sie sich noch nicht wieder beruhigt.
Nach etwa einer Stunde und vielen vergeblichen Versuchen einzuschlafen taucht Thunder Bay vor uns auf. Es ist eine weitläufige Stadt, in der mehr als hunderttausend Menschen leben. Wir fahren durch Gewerbe- und Geschäftsviertel, die mich nicht sonderlich beeindrucken. Walmart mag für die Atmenden ein angenehmer Ort sein, aber hat man schon mal einen Geist gesehen, der die Preise für Motoröl vergleicht oder versucht, sich in das Gehäuse einer Xbox 360 zu zwängen? Erst als wir den Stadtkern erreichen – das ältere Viertel oberhalb des Hafens – entdecke ich, was ich suche.
Zwischen modernisierten Eigenheimen stehen ein paar windschiefe Bauten, bei denen die Farbe großflächig abblättert. Die Läden hängen schief vor den
Fenstern, die mich anstarren wie verwundete Augen. Die schöneren Häuser bemerke ich kaum. Ich blinzele, wenn wir daran vorbeifahren, und vergesse sie sofort wieder. Langweilig und bedeutungslos.
Im Laufe meines Lebens habe ich schon viele Orte gesehen. Orte voller Schatten, wo Dinge aus dem Ruder gelaufen sind. Üble Gegenden, wo sich alle möglichen Wesen herumtreiben. Ich verabscheue Städte voller Sonnenlicht mit Neubaugebieten, grünen Wiesen und lachenden Kindern. Diese Städte werden nicht weniger heimgesucht als die anderen, sie lügen nur besser. Ich mag Orte wie diesen, wo man bei jedem siebten Atemzug den Hauch des Todes schmecken kann.
Vor der Stadt liegt der Lake Superior wie ein schlafender Hund. Mein Dad hat immer gesagt, Wasser gibt den Toten Sicherheit. Nichts zieht sie so sehr an wie Wasser, und nichts verbirgt sie besser.
Meine Mutter hat das Navi eingeschaltet, das sie nach einem Onkel, der einen besonders guten Orientierungssinn besaß, liebevoll Fran genannt hat. Frans leiernde Stimme leitet uns durch die Stadt und gibt uns Anweisungen, als wären wir die letzten Idioten. Bereiten Sie sich darauf vor, nach fünfzig Metern links abzubiegen. Bereiten Sie sich auf das Linksabbiegen vor. Links abbiegen. Tybalt spürt, dass die Reise bald zu Ende ist, und kehrt in seine Box zurück. Ich lange nach unten und schließe die Tür. Er faucht mich an, als hätte er es lieber selbst gemacht.
Das Haus, das wir gemietet haben, ist ziemlich klein.
Zwei Stockwerke, rotbraun gestrichen, mit dunkelgrauen Zierleisten und Fensterläden. Es steht an einem Hügel, vor dem sich ebenes Land erstreckt. Als wir in die Auffahrt einbiegen, spähen keine Nachbarn aus den Fenstern, und niemand tritt auf die Veranda, um »Hallo« zu sagen. Das Haus wirkt zurückhaltend und einsam.
»Was meinst du?«, fragt meine Mom.
»Es gefällt mir«, erwidere ich aufrichtig. »Du weißt, worauf es ankommt.«
Sie seufzt. Es wäre ihr lieber, ich würde grinsend die Treppe zur Veranda hinaufspringen, die Tür aufreißen und ins erste Stockwerk rasen, um zu verkünden, das große Schlafzimmer sei meines. Das habe ich früher immer getan, wenn wir mit Dad an einen neuen Ort umgezogen sind. Aber damals war ich sieben. Nein, von ihren straßenmüden Augen lasse ich mir keine Schuldgefühle einimpfen. Sonst sitzen wir im Handumdrehen im Hinterhof, winden Gänseblümchenkränze und ernennen die Katze zum König der Sommersonnenwende.
Ich schnappe mir die Transportbox und steige aus dem Umzugswagen. Es dauert keine zehn Sekunden, bis ich die Schritte meiner Mom hinter mir höre. Ich warte, bis sie die Vordertür aufschließt, dann treten wir ein. Es riecht nach abgestandener Sommerwärme und dem alten Dreck von Fremden. Gleich hinter der Tür stehen wir in einem großen Wohnzimmer, das bereits mit einem beigefarbenen Sofa und einem Ohrensessel möbliert ist. Außerdem gibt es einen Couchtisch
und einen Ecktisch aus dunklem Mahagoni, und eine Messingleuchte, die dringend einen neuen Lampenschirm bräuchte. Weiter hinten führt ein mit Holz verkleideter Durchgang in die Küche und zu einem offenen Esszimmer.
Ich blicke nach rechts zu der im Schatten liegenden Treppe. Leise schließe ich hinter uns die Eingangstür und stelle die Katzenbox auf den Holzboden, dann öffne ich sie. Nach einer Sekunde lugt ein grünes Augenpaar heraus, dann folgt der geschmeidige schwarze Körper. Diesen Trick habe ich von meinem Dad gelernt, und er hat ihn sich selbst ausgedacht.
Auf einen Hinweis hin sind wir einmal nach Portland gezogen. Bei dem betreffenden Job ging es um die zahlreichen Opfer eines Brandes in einer Konservenfabrik.
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