Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kendare Blake
Vom Netzwerk:
steckt darin, und das Wissen darum beruhigt mich. Er ist wie eine kleine Christophorusmedaille.
    Im ersten Stock gibt es drei Schlafzimmer und ein voll eingerichtetes Bad, darüber befindet sich noch ein Dachboden, den man über eine Ausziehleiter erreichen kann. Es riecht nach frischer Farbe, was ein gutes Zeichen ist. Neue Dinge sind gut, weil an ihnen kein sentimentales altes Wesen kleben kann. Tybalt durchsucht das Bad und dann eines der Schlafzimmer. Er starrt die Kommode an, deren Schubladen etwas schief offen stehen, und mustert geringschätzig das kahle Bettgestell. Dann setzt er sich und putzt sich die Vorderpfoten.
    »Hier ist nichts. Lass uns unsere Sachen hereinbringen und das Haus versiegeln.« Sobald der faule Kater
spürt, dass sich etwas bewegt, dreht er den Kopf herum und knurrt mich an. Die grün schillernden Augen sind groß wie Wanduhren. Ich ignoriere ihn und greife nach der Klapptür, die zum Dachboden führt. »Aua!« Tybalt hat mich als Kletterbaum benutzt. Ich halte ihn mit beiden Händen am Rücken fest, und er hat mir die Krallen aller vier Pfoten tief in die Haut geschlagen. Dabei schnurrt das verdammte Biest.
    »Er spielt nur, mein Lieber«, erklärt Mom, während sie vorsichtig die Krallen aus meiner Kleidung zupft. »Ich stecke ihn wieder in die Transportbox und stelle ihn in ein freies Zimmer, bis wir uns eingerichtet haben. Vielleicht könntest du schon mal im Anhänger das Katzenklo suchen.«
    »Spitze«, sage ich sarkastisch. Aber dann versorge ich den Kater im neuen Schlafzimmer meiner Mom mit Essen, Wasser und Katzenklo, und anschließend bringen wir die anderen Sachen ins Haus. Es dauert nur zwei Stunden, wir sind schließlich sehr geübt darin. Trotzdem geht die Sonne schon fast unter, als meine Mutter in der Küche mit ihrer Hexerei beginnt: Sie verbrennt Öle und Kräuter, um die Türen und Fenster zu imprägnieren. Damit halten wir mehr oder weniger alles draußen, was nicht drin war, als wir eingezogen sind. Ich habe keine Ahnung, ob es funktioniert, aber ich kann auch nicht behaupten, dass es nicht wirkt. In unseren Häusern ist uns jedenfalls noch nie etwas passiert. Es riecht nach Sandelholz und Rosmarin.
    Nachdem das Haus versiegelt ist, mache ich im Hinterhof ein kleines Feuer, um mit meiner Mom allen
Krimskrams aus dem Haus zu verbrennen, der früheren Bewohnern möglicherweise irgendetwas bedeutet hat: eine violette Perlenhalskette, die vergessen in einer Schublade lag, ein Paar selbstgehäkelte Topflappen und sogar ein kleines Streichholzbriefchen, das allzu gut erhalten schien. Es wäre wirklich nicht gut, wenn hier irgendwelche Gespenster auftauchen, weil sie etwas vergessen haben. Meine Mutter drückt mir einen feuchten Daumen auf die Stirn. Es riecht nach Rosmarin und einem süßen Duftöl.
    »Mom.«
    »Du kennst die Regeln. Wir wiederholen das an den ersten drei Abenden.« Sie lächelt, und im Licht des Feuers scheint ihr braunes Haar zu brennen. »Ich will, dass du sicher bist.«
    »Davon kriege ich Pickel«, protestiere ich, wische aber das Zeug nicht ab. »In zwei Wochen beginnt die Schule.«
    Sie sagt nichts, sondern starrt nur ihren Kräuterdaumen an, als wollte sie ihn sich auch selbst zwischen die Augen drücken. Dann blinzelt sie und wischt ihn an ihren Jeans ab.
    Die Stadt riecht nach Rauch und sommerlicher Verwesung. Sie ist stärker befallen, als ich es für möglich gehalten hätte. Unter einer dicken Staubschicht wimmelt es vor Aktivität: ein Flüstern hinter dem Lachen der Menschen, eine Bewegung, die man nur aus dem Augenwinkel wahrnimmt und sofort wieder anzweifelt. Das meiste ist harmlos – traurige kleine kalte Flecken, ein Stöhnen im Dunkeln. Verschwommene
weiße Erscheinungen, die nur eine Sofortbildkamera zeigt. Das alles kümmert mich nicht.
    Aber irgendwo da draußen ist die eine, auf die es mir ankommt. Da draußen geht die um, wegen der ich hergekommen bin. Eine, die stark genug ist, den Lebenden den Atem aus dem Leib zu quetschen.
    Ich denke an sie. Anna. Anna mit dem blutroten Kleid. Ich frage mich, welche Tricks sie ausprobieren wird, und wie schlau sie wohl ist. Wird sie schweben? Lachen oder kreischen?
    Wie wird sie mich zu töten versuchen?

»Möchtest du lieber ein Trojaner oder ein Tiger sein?«
    Meine Mutter stellt mir diese Frage, während sie mit dem Schüttelsieb am Herd steht und Maispfannkuchen macht. Es ist der letzte Tag für die Einschreibung, morgen beginnt die Highschool. Sie wollte das eigentlich schon viel eher

Weitere Kostenlose Bücher