Anna Karenina
völlig
unerwartet auftraten und der Hörer durch nichts auf sie vorbereitet war. Fröhlichkeit und Trauer und Verzweiflung
und Zärtlichkeit und Jubel erschienen in ganz unbegründeter Weise, wie die Gefühle eines Irrsinnigen. Und gerade
wie bei einem Irrsinnigen gingen diese Gefühle dann auch wieder ganz unerwartet vorüber.
Ljewin hatte während der ganzen Aufführung dieses Musikstücks die Empfindung eines Tauben, der einem Tanze
zusieht. Als das Stück beendet war, fand er sich völlig verständnislos und fühlte infolge seiner angestrengten und
ganz unbelohnt gebliebenen Aufmerksamkeit eine starke Ermüdung. Auf allen Seiten erscholl lautes Händeklatschen.
Alle standen auf, gingen umher und redeten miteinander. In dem Wunsche, seiner Verständnislosigkeit durch die
bessere Einsicht anderer aufzuhelfen, setzte sich auch Ljewin in Bewegung, um den einen oder andern
Musikverständigen zu suchen, und war sehr erfreut, als er einen der berühmtesten Kenner im Gespräch mit seinem
Bekannten Peszow erblickte.
»Wundervoll!« sagte Peszow mit seiner tiefen Baßstimme. »Guten Tag, Konstantin Dmitrijewitsch. Ganz besonders
malerisch, farbenreich und ich möchte sagen plastisch ist die Stelle, wo man die Annäherung Kordelias empfindet, wo
das Weib, ›das ewig Weibliche‹« (er zitierte diese Worte deutsch) »den Kampf mit dem Schicksal aufnimmt. Nicht
wahr?«
»Aber warum soll man denn gerade an Kordelia denken?« fragte Ljewin schüchtern; er hatte ganz und gar vergessen,
daß die Phantasie den König Lear auf der Heide darstellte.
»›Kordelia tritt auf‹ ... Hier steht's!« antwortete Peszow und schlug mit den Fingern auf die glanzpapierne
Vortragsfolge, die er in der Hand hatte. Er reichte sie Ljewin hin.
Jetzt erst erinnerte sich Ljewin an den Titel der Phantasie, und er beeilte sich, die auf der Rückseite des
Blattes abgedruckte russische Übersetzung der Shakespeareschen Verse zu lesen.
»Ohne das kann man nicht folgen«, sagte Peszow, indem er sich zu Ljewin wandte, da der Herr, mit dem er sich bis
dahin unterhalten hatte, weggegangen war und er nun niemand sonst hatte, mit dem er reden konnte.
Im weiteren Verlaufe der Pause entspann sich zwischen Ljewin und Peszow ein Streit über die Vorzüge und Mängel
der Wagnerschen Richtung in der Musik. Ljewin behauptete, Wagner und alle seine Nachahmer begingen insofern einen
Fehler, als sie die Musik in das Gebiet einer fremden Kunst hinüberführen wollten; das sei derselbe Fehler, den die
Poesie begehe, wenn sie die Züge eines Gesichtes darzustellen versuche, was doch Sache der Malerei sei. Und als
Beispiel eines solchen Fehlers führte er einen Bildhauer an, der auf den Einfall gekommen war, um das Standbild
eines Dichters herum aus Marmor ausgehauene Schattengebilde seiner dichterischen Gestalten an dem Sockel aufsteigen
zu lassen. »Diese Schattengebilde sind bei dem Bildhauer so weit davon entfernt, Schattengebilde zu sein, daß sie,
statt zu schweben, sich an Leitern festhalten«, sagte Ljewin. Diese Redewendung gefiel ihm sehr; aber er konnte
sich nicht erinnern, ob er sich dieser selben Redewendung nicht schon früher, und zwar gerade Peszow gegenüber,
bedient habe, und daher wurde er nach diesen Worten verlegen.
Peszow dagegen behauptete, die gesamte Kunst sei nur eine einzige, einheitliche, und die Kunst könne zu ihren
höchsten Offenbarungen nur durch eine Vereinigung aller Gattungen gelangen.
Bei der zweiten Nummer ordentlich zuzuhören, war für Ljewin ein Ding der Unmöglichkeit. Peszow, der bei ihm
stehengeblieben war, redete fast die ganze Zeit über und schalt auf dieses Werk wegen seiner übertriebenen,
gekünstelten, abgeschmackten Einfachheit; er verglich es mit der Einfachheit der Präraffaeliten in der Malerei.
Beim Hinausgehen traf Ljewin noch viele Bekannte und unterhielt sich mit ihnen über Politik und über Musik und über
gemeinsame Bekannte; unter anderen begegnete er auch dem Grafen Bohl, und es fiel ihm dabei ein, daß er ja bei
diesem einen Besuch machen sollte, was er vollständig vergessen hatte.
»Nun, dann fahren Sie nur gleich hin«, sagte zu ihm Frau Lwowa, der er dies mitteilte. »Vielleicht werden Sie
gar nicht empfangen. Und dann kommen Sie, bitte, in die Sitzung, um mich abzuholen; Sie werden mich dort noch
antreffen.«
6
»Vielleicht wird heute nicht empfangen?« fragte Ljewin, als er in dem Bohlschen Hause in den Flur trat.
»O doch, es wird empfangen; bitte näher zu
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