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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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conceptions aus rein erdachten, konventionellen
    Gestalten, und dann, wenn alle combinaisons durchgemacht sind, sind einem die rein erdachten Gestalten langweilig
    geworden, und man begibt sich auf die Suche nach natürlicheren, lebenstreueren Gestalten.«
    »Das ist durchaus richtig!« stimmte Workujew ihr bei.
    »Ihr wart also im Klub?« wandte sie sich an ihren Bruder.
    ›Ja, ja, das ist ein Weib!‹ dachte Ljewin, der alles um sich her vergessen hatte und unverwandt auf ihr schönes,
    bewegliches Gesicht starrte, das jetzt auf einmal einen vollständig anderen Ausdruck angenommen hatte. Ljewin hörte
    nicht, wovon sie sprach, während sie sich zu ihrem Bruder hinbeugte; aber er war von der Veränderung ihrer
    Gesichtszüge überrascht. Ihr vorher in seiner Ruhe so schönes Antlitz spiegelte nun auf einmal eine seltsame
    Spannung, Zorn und Stolz wider. Aber das dauerte nur einen Augenblick, dann kniff sie die Augen zusammen, als ob
    sie sich auf etwas besinnen wollte.
    »Nun ja, übrigens hat das für niemand Interesse«, sagte sie und wandte sich zu der Engländerin: »Please, order
    the tea in the drawing-room.« 1
    Das junge Mädchen stand auf und ging hinaus.
    »Nun, wie ist es? Hat sie ihr Examen bestanden?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
    »Sie hat es vorzüglich bestanden. Sie ist ein sehr begabtes Mädchen und ein liebenswürdiger Charakter.«
    »Es wird noch so weit kommen, daß du sie mehr liebst als deine eigene Tochter.«
    »Da merkt man, daß ein Mann redet. In der Liebe gibt es kein Mehr und kein Weniger. Meine Tochter liebe ich auf
    die eine Art und meine Pflegetochter auf eine andere.«
    »Ich sprach vorhin eben mit Anna Arkadjewna über den gleichen Gegenstand«, sagte Workujew, »und ich war der
    Ansicht, wenn sie auch nur den hundertsten Teil der Tatkraft, die sie auf diese Engländerin verwendet, der
    gemeinsamen Sache der russischen Kindererziehung zuwenden wollte, so würde sie ein großes, nützliches Werk
    vollbringen.«
    »Ja, das ist nun einmal nicht anders; ich habe es versucht, aber nicht gekonnt. Graf Alexei Kirillowitsch wollte
    mich durchaus dazu anregen« (als sie die Worte »Graf Alexei Kirillowitsch« aussprach, richtete sie einen schüchtern
    bittenden Blick auf Ljewin, und dieser antwortete ihr unwillkürlich mit einem ehrerbietigen, zustimmenden Blicke),
    »wollte mich durchaus dazu anregen, mich auf dem Lande mit der Schule zu beschäftigen. Ich bin ein paarmal
    hingegangen. Die kleinen Mädchen waren ja sehr lieb; aber ich konnte zu der Sache kein Herz fassen. Ja, Sie sagen:
    Tatkraft. Aber Tatkraft wurzelt in der Liebe, und Liebe kann man sich nicht geben, zur Liebe kann man sich nicht
    zwingen. Dieses junge Mädchen hier habe ich liebgewonnen, ich weiß selbst nicht warum.«
    Wieder blickte sie Ljewin an. Und ihr Lächeln und ihr Blick, alles sagte ihm, daß sie ihre Rede nur an ihn
    richtete, da sie auf seine Meinung Wert lege und zugleich im voraus wisse, daß sie einander verständen.
    »Ich verstehe das vollkommen«, erwiderte Ljewin. »Der Schule und überhaupt Einrichtungen ähnlicher Art kann man
    kein Herzensinteresse widmen, und ich glaube, daß eben deshalb diese philanthropischen Institute so geringe
    Ergebnisse aufzuweisen haben.«
    Sie schwieg ein Weilchen, dann lächelte sie. »Ja, ja«, stimmte sie ihm bei. »Ich habe es nie fertiggebracht. Je
    n'ai pas le cœur assez large 2 , um eine ganze Anstalt
    voll garstiger kleiner Mädchen zu lieben. Cela ne m'a jamais réussi. 3 Wie viele Frauen gibt es nicht, die sich dadurch eine position sociale geschaffen
    haben! Und jetzt ist es mir erst recht nicht möglich«, fuhr sie fort, indem sie sich mit einem traurigen,
    zutraulichen Ausdruck scheinbar an ihren Bruder, in Wirklichkeit aber ausschließlich an Ljewin wandte. »Auch jetzt,
    wo ich doch irgendwelche Beschäftigung so gut gebrauchen könnte, auch jetzt vermag ich es nicht.« Sie machte
    plötzlich ein finsteres Gesicht (Ljewin durchschaute, daß ihr Unwille sich gegen sie selbst richtete, weil sie von
    ihrer persönlichen Lage gesprochen hatte) und brachte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. »Ich weiß über
    Sie«, sagte sie zu Ljewin, »daß Sie ein schlechter Staatsbürger sind, und habe Sie verteidigt, so gut ich es
    verstand.«
    »Wie haben Sie mich denn verteidigt?«
    »Entsprechend der Art, wie Sie angegriffen wurden. Aber ist Ihnen nicht Tee gefällig?« Sie stand auf und nahm
    ein in Saffian gebundenes Buch in die Hand.
    »Geben Sie es mir,

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