Anna Karenina
jetzt? Hab ich's dir nicht vorher gesagt?« fragte Stepan Arkadjewitsch, dem es nicht entging,
daß Ljewin völlig in ihren Bann geraten war.
»Ja«, erwiderte Ljewin nachdenklich, »sie ist eine ungewöhnliche Frau! Nicht sowohl wegen ihres
außerordentlichen Verstandes wie wegen ihres wundervollen Herzens. Sie tut mir schrecklich leid!«
»Jetzt wird, so Gott will, bald alles in Ordnung kommen. Na also, hm, hm, man muß mit seinem Urteil nicht zu
schnell sein. Adieu, wir haben nicht denselben Weg.«
Während Ljewin nach Hause fuhr, dachte er unaufhörlich an Anna und an all die durchaus ungekünstelten Gespräche,
die er mit ihr geführt hatte; er erinnerte sich dabei an alle Einzelheiten ihres Mienenspieles, versetzte sich
immer mehr und mehr in ihre Lage und empfand immer innigeres Mitleid mit ihr.
Zu Hause berichtete ihm Kusma, Katerina Alexandrowna befinde sich wohl und die beiden anderen Schwestern seien
erst vor kurzem weggefahren; er übergab ihm auch zwei Briefe. Ljewin las sie gleich dort im Vorzimmer durch, um
später nicht dadurch gestört zu werden. Der eine war von seinem Verwalter Sokolow. Sokolow schrieb, er habe den
Weizen nicht verkaufen können, da nur fünfundeinhalber Rubel dafür geboten würden; er wisse nicht, wo er Geld zu
weiteren Sendungen hernehmen solle. Der andere Brief war von seiner Schwester. Sie machte ihm Vorwürfe, daß ihre
Angelegenheit immer noch nicht erledigt sei.
›Na, wenn die Leute nicht mehr geben wollen, müssen wir ihn für fünfeinhalb verkaufen‹, entschied Ljewin
sogleich mit großer Leichtigkeit die erste Frage, die ihm in früheren Zeiten sehr schwierig erschienen wäre. ›Es
ist ganz wunderbar, wie hier meine Zeit immer besetzt ist‹, dachte er bei dem zweiten Briefe. Er fühlte sich seiner
Schwester gegenüber schuldig, weil er das, worum er von ihr gebeten war, immer noch nicht getan hatte. ›Heute bin
ich wieder nicht aufs Gericht gekommen; aber ich habe auch wirklich keine Zeit gehabt.‹ Er nahm sich vor, es morgen
unter allen Umständen zu tun, und ging zu seiner Frau.
Während er zu ihr ging, durchlief er in seiner Erinnerung den ganzen hinter ihm liegenden Tag. Alle Ereignisse
bestanden lediglich in Gesprächen, in Gesprächen, die er mit angehört und an denen er sich beteiligt hatte. Alle
diese Gespräche hatten sich um Gegenstände gedreht, mit denen er, wenn er allein und auf dem Lande gewesen wäre,
sich niemals beschäftigt haben würde; hier aber hatten sie ihn lebhaft interessiert. Und alle diese Gespräche waren
nett gewesen; nur zwei Punkte aus dem Leben dieses Tages riefen bei ihm ein unangenehmes Gefühl hervor: erstens
das, was er von dem Hechte gesagt hatte und zweitens schien ihm in dem zärtlichen Mitleid, das er für Anna empfand,
etwas Ungehöriges zu liegen.
Seine Frau fand er in trüber, gelangweilter Stimmung. Sie berichtete ihm, ihr, der drei Schwestern, gemeinsames
Mittagessen wäre ganz vergnügt verlaufen; aber dann hätten sie auf ihn gewartet und gewartet und sich alle
gelangweilt; die beiden Schwestern seien weggefahren, und sie sei allein geblieben.
»Nun, und was hast du gemacht?« fragte sie und blickte ihm in die Augen, die so einen besonderen, verdächtigen
Glanz hatten. Aber um ihn nicht davon abzuschrecken, ihr alles zu erzählen, schwieg sie von dieser Beobachtung, die
ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, und hörte seinen Bericht darüber, wie er den Abend verlebt hatte, mit beifälligem
Lächeln an.
»Nun, ich habe mich sehr gefreut, daß ich mit Wronski zusammengetroffen bin. Ich habe in ganz unbefangener,
harmloser Weise mit ihm geredet. Du verstehst wohl, jetzt werde ich mir Mühe geben, nie wieder mit ihm in Berührung
zu kommen; aber es ist gut, daß dieser peinliche Zustand beendet ist«, sagte er; aber in Erinnerung daran, daß er
trotz seiner angeblichen Bemühung, nie wieder mit Wronski in Berührung zu kommen, unmittelbar darauf zu Anna
gefahren war, errötete er. »Ja, da entrüsten wir uns nun darüber, daß das gemeine Volk trinkt; aber ich weiß nicht,
wer mehr trinkt, das gemeine Volk oder die Leute unseres Standes; das Volk trinkt wenigstens nur an Feiertagen,
aber ...«
Kitty interessierte sich jedoch nicht für Betrachtungen darüber, wie das Volk trinke. Sie hatte gesehen, daß er
rot geworden war, und wollte wissen, warum.
»Nun, und wo bist du dann gewesen?«
»Stiwa hat mir so stark zugesetzt, ich möchte mit ihm zu Anna Arkadjewna kommen.«
Sobald
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