Anna Karenina
Ljewin das gesagt hatte, errötete er noch heftiger, und seine Zweifel, ob er auch recht daran getan habe,
zu Anna hinzufahren, waren nun mit einemmal endgültig entschieden. Jetzt wußte er, daß er das nicht hätte tun
dürfen.
Kittys Augen hatten sich bei Annas Namen in einer besonderen Weise erweitert und zu blitzen angefangen; aber
sich Gewalt antuend, suchte sie ihre Erregung zu verbergen und ihn zu täuschen.
»Ah!« sagte sie nur.
»Du wirst gewiß nicht böse sein, daß ich dort gewesen bin. Stiwa bat mich darum, und auch Dollys Wunsch ist es
gewesen«, fuhr Ljewin fort.
»O nein«, erwiderte sie; aber er sah ihr an den Augen an, daß sie sich Gewalt antat, und das schien ihm nichts
Gutes zu versprechen.
»Sie ist eine sehr liebe, sehr, sehr bedauernswerte, gute Frau«, sagte er und erzählte nun von Anna und von
ihrer Beschäftigung und bestellte auch, was sie ihm aufgetragen hatte.
»Ja, gewiß, sie ist sehr bedauernswert«, versetzte Kitty, als er mit seinen Mitteilungen zu Ende war. »Von wem
hast du denn Briefe bekommen?«
Er sagte es ihr, und beruhigt durch ihren gelassenen Ton, ging er weg, um sich zu entkleiden.
Als er zurückkam, fand er Kitty noch unverändert auf ihrem Stuhle sitzend. Sobald er an sie herantrat, blickte
sie ihn an und brach in heftiges Schluchzen aus.
»Was hast du? Was hast du?« fragte er, obwohl er schon im voraus wußte, was der Grund war.
»Du hast dich in dieses garstige Weib verliebt; sie hat dich in ihre Netze gezogen. Ich habe es dir an den Augen
angesehen. Jawohl, jawohl! Was soll daraus werden! Du hast im Klub getrunken und getrunken, hast gespielt, und dann
hast du so einen Besuch gemacht ... bei wem! Nein, wir wollen fortreisen ... Morgen reise ich von hier weg.«
Lange Zeit konnte Ljewin seine Frau nicht beruhigen. Endlich gelang ihm dies doch, aber nur durch das
Eingeständnis, daß das Gefühl des Mitleids und dazu noch der genossene Wein ihn verwirrt gemacht hätten, so daß er
den listigen Künsten Annas unterlegen sei, sowie durch das Versprechen, diese Frau künftig zu meiden. Der
aufrichtigste Teil seines Geständnisses war, daß er während dieses langen Aufenthaltes in Moskau, wo er weiter
nichts tue als Gespräche führen und essen und trinken, halb verrückt geworden sei. Sie redeten miteinander bis drei
Uhr nachts. Erst um drei Uhr hatten sie sich so weit ausgesöhnt, daß sie einschlafen konnten.
12
Nachdem Anna ihre Gäste hinausbegleitet hatte, setzte sie sich nicht wieder hin, sondern begann im Zimmer auf
und ab zu gehen. Obgleich sie unbewußt (wie sie das in der letzten Zeit allen jungen Männern gegenüber zu tun
pflegte) den ganzen Abend über getan hatte, was nur irgend möglich war, um bei Ljewin ein Gefühl der Liebe zu ihr
zu erwecken, und obgleich sie wußte, daß sie dies erreicht hatte, soweit es eben bei einem ehrenhaften Ehemanne und
an einem einzigen Abend möglich gewesen war, und obgleich er ihr sehr gefallen hatte (ungeachtet des starken
Unterschiedes, den Männer von ihrem Standpunkte aus zwischen Wronski und Ljewin finden mußten, sah sie als Frau an
ihnen gerade die gemeinsamen Vorzüge, um deretwillen Kitty sich sowohl in Wronski wie auch in Ljewin verliebt
hatte): trotz alledem hörte sie, sobald er nur das Zimmer verlassen hatte, auf, an ihn zu denken.
Ein und derselbe Gedanke verfolgte sie aufdringlich in mannigfaltigen Gestalten. ›Wenn mein Wesen auf andere
Männer, selbst auf diesen in seine Frau verliebten Ehemann, eine solche Wirkung ausübt, warum ist dann gerade er so
kalt gegen mich? Zwar »kalt« ist wohl nicht das richtige Wort; er liebt mich, das weiß ich. Aber eine Art von neuer
Schranke hat sich trennend zwischen uns erhoben. Warum ist er den ganzen Abend nicht zu Hause gewesen? Er hat mir
durch Stiwa sagen lassen, er könne Jaschwin nicht allein lassen und müsse ihn beim Spiele im Auge behalten. Ist
denn Jaschwin ein kleines Kind? Aber angenommen, daß das die Wahrheit ist (und allerdings redet er nie die
Unwahrheit), so steckt hinter dieser wahren Begründung doch noch etwas anderes. Er freut sich über eine
Gelegenheit, mir zu beweisen, daß er auch noch andere Verpflichtungen hat. Ich weiß das und finde mich darein. Aber
wozu braucht er mir das zu beweisen? Er will mir beweisen, daß seine Liebe zu mir seiner Freiheit nicht hinderlich
sein darf. Aber ich brauche keine Beweise, ich brauche Liebe. Er sollte für die ganze Peinlichkeit dieses meines
Lebens hier in
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