Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
dachte Wronski, indem er das Verdeck des Wagens in die Höhe schlug. ›Schmutzig war es so schon; nun wird's der reine Sumpf sein.‹ Während er so allein im geschlossenen Wagen saß, holte er den Brief seiner Mutter und den Zettel seines Bruders hervor und las beide.
Ja, es war immer dieselbe Geschichte. Alle, seine Mutter, sein Bruder, alle hielten sie es für nötig, sich in seine Herzensangelegenheiten zu mischen. Diese Einmischung rief in ihm einen ordentlichen Ingrimm hervor, eine Empfindung, die er nur selten hatte. ›Was geht es sie an? Warum hält es jeder für seine Pflicht, sich um mich Sorgen zu machen? Warum drängen sie sich mir auf? Weil sie sehen, daß hier etwas vorgeht, was sie nicht begreifen können. Handelte es sich um eine der gewöhnlichen faden Liebschaften, wie sie in der Gesellschaft gang und gäbe sind, so würden sie mich in Ruhe lassen. Aber sie fühlen, daß dies denn doch von anderer Art ist, daß dies keine Spielerei ist und daß diese Frau mir teuerer ist als mein Leben. Und dergleichen ist ihnen unverständlich, und darum ärgern sie sich. Unser Schicksal, mag es jetzt sein, wie es will, und sich künftig gestalten, wie es will, haben wir uns selbst geschaffen, und wir dürfen uns nicht darüber beklagen‹, sagte er zu sich, wobei er mit dem Worte ›wir‹ sich und Anna zusammenfaßte. ›Aber nein, sie halten für nötig, uns zu belehren, wie wir leben sollen. Sie haben nicht einmal einen Begriff davon, was Glück ist; sie wissen nicht, daß es ohne diese Liebe für uns kein Glück und kein Unglück gibt, sondern geradezu kein Leben‹, dachte er.
Er ärgerte sich über alle diese Menschen wegen ihrer Einmischung eben deshalb, weil er im Grunde seines Herzens fühlte, daß sie recht hatten. Er fühlte, daß die Liebe, die ihn mit Anna verband, nicht ein augenblicklicher Rausch sei, der vergehen werde, wie gewöhnliche Liebschaften vergehen, ohne in ihrem Leben andere Spuren zurückzulassen als angenehme oder unangenehme Erinnerungen. Er fühlte, wie qualvoll seine und ihre Lage war, welche Schwierigkeit es für sie beide hatte, so den Augen der ganzen Gesellschaft ausgesetzt ihre Liebe zu verbergen, zu lügen und zu betrügen und List anzuwenden und beständig an andere Leute zu denken, während doch die Leidenschaft, die sie verknüpfte, so mächtig war, daß sie beide alles andere außer ihrer Liebe vergaßen.
Er erinnerte sich, lebhaft aller jener häufig vorgekommenen Fälle, wo sie sich zu Lüge und Täuschung genötigt gesehen hatten, die doch seiner Natur so zuwider waren; er erinnerte sich besonders lebhaft daran, daß er mehrmals an ihr ein Gefühl der Scham über diese Notwendigkeit, zu lügen und zu betrügen, wahrgenommen hatte. Und es überkam ihn ein sonderbares Gefühl, das er schon manchmal seit dem Beginn seiner Beziehungen zu Anna gehabt hatte. Es war dies ein Gefühl des Ekels vor irgend etwas: ob vor Alexei Alexandrowitsch oder vor sich selbst oder vor der ganzen Gesellschaft, das wußte er selbst nicht recht. Aber er hatte dieses sonderbare Gefühl immer möglichst schnell verscheucht. Und auch jetzt schüttelte er sich, um es loszuwerden, und setzte seinen Gedankengang fort.
›Ja, sie war früher unglücklich, aber stolz und ruhig; jetzt hingegen kann sie nicht ruhig und selbstbewußt sein, obwohl sie sich nichts merken lassen möchte. Ja, diesem Zustand muß ein Ende gemacht werden‹, sagte er zu sich selbst mit aller Bestimmtheit.
Und zum ersten Male bildete sich in seinem Kopfe der klare Gedanke, daß dieses Lügen ein Ende nehmen müsse, und zwar je eher, desto besser. ›Wir beide, sie und ich, müssen uns von allem lossagen und uns in irgendeinem Winkel allein mit unserer Liebe verbergen‹, sagte er zu sich.
22
D er Regenguß dauerte nicht lange, und als Wronski in vollem Trabe des Deichselpferdes, das die schon ohne Lenkriemen durch den Schmutz dahingaloppierenden Seitenpferde mit sich zog, in Peterhof ankam, schaute die Sonne schon wieder hervor, und die Dächer der Landhäuser und die alten Linden in den Gärten zu beiden Seiten der Hauptstraße blitzten in nassem Glanze, und das Wasser tropfte lustig von den Zweigen und rann von den Dächern herunter. Er dachte nicht mehr daran, wie dieser Platzregen die Rennbahn verderbe, sondern jetzt freute er sich darüber, daß er dank diesem Regen sie aller Wahrscheinlichkeit nach zu Hause treffen werde, und zwar allein, da er wußte, daß Alexei Alexandrowitsch, der
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