Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
wenn ich weiß, daß Sie einen Kummer haben, den ich nicht mit Ihnen teilen darf? Um Gottes willen, reden Sie!« bat er noch einmal in flehendem Tone.
›Ja‹, dachte sie, während sie ihn immer noch ebenso anblickte und fühlte, daß ihre Hand mit dem Blatte immer stärker zitterte, ›ich würde es ihm nie verzeihen, wenn er nicht die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstehen sollte. Es ist besser, wenn ich nichts sage; wozu soll ich ihn auf die Probe stellen?‹
»Um Gottes willen, reden Sie!« drängte er von neuem, indem er ihre Hand ergriff.
»Soll ich es sagen?«
»Ja, ja, ja!«
»Ich bin in anderen Umständen«, sagte sie leise und langsam.
Das Blatt in ihrer Hand zitterte immer heftiger, aber sie wandte die Augen nicht von Wronski ab, um zu sehen, wie er diese Mitteilung aufnehmen werde. Er erblaßte, wollte etwas erwidern, hielt aber inne, ließ ihre Hand los und senkte den Kopf. ›Ja, er hat die ganze Bedeutung dieses Ereignisses verstanden‹, dachte sie und drückte ihm dankbar die Hand.
Trotzdem irrte sie sich in der Annahme, daß er die Bedeutung dieser Nachricht in derselben Weise verstehe, wie sie sie als Frau verstand. Bei dieser Mitteilung hatte er mit verzehnfachter Stärke einen Anfall jenes sonderbaren, ihn mitunter überkommenden Gefühls des Ekels gegen irgend jemand erlitten; aber zugleich hatte er erkannt, daß jene Krisis, die er herbeigewünscht hatte, jetzt eingetreten war, daß es unmöglich war, die Sache länger vor dem Ehemanne zu verheimlichen, und daß mit Notwendigkeit dieser unnatürlichen Lage bald auf die eine oder andere Weise ein Ende gemacht werden müsse. Aber außerdem war ihre Erregung in physischer Hinsicht auch auf ihn übergegangen. Er sah sie mit einem Blicke voll Rührung und Ergebenheit an, küßte ihr die Hand, stand auf und ging schweigend auf der Terrasse auf und ab.
»Ja«, sagte er dann, indem er entschlossen zu ihr trat. »Weder Sie noch ich haben unser Verhältnis als eine Spielerei betrachtet, und jetzt ist unser Schicksal entschieden. Diesem Lügenspiel, in dem wir leben, müssen wir unbedingt ein Ende machen«, äußerte er, sich nach allen Seiten umschauend.
»Ein Ende machen? Wie sollen wir ein Ende machen, Alexei?« fragte sie leise. Sie hatte sich jetzt beruhigt, und auf ihrem Gesichte strahlte ein zärtliches Lächeln.
»Du mußt deinen Mann verlassen und dein Leben mit dem meinen vereinigen.«
»Es ist auch so schon vereinigt«, antwortete sie kaum hörbar.
»Ja, aber völlig, völlig.«
»Aber wie soll ich das machen, Alexei? Belehre mich, wie ich das machen soll«, sagte sie mit trübem Spott über die Trostlosigkeit ihrer Lage. »Gibt es denn einen Ausweg aus einer solchen Lage? Bin ich denn nicht die Frau meines Mannes?«
»Aus jeder Lage gibt es einen Ausweg«, erwiderte er. »Man muß sich nur zu einem Entschlusse aufraffen. Alles ist besser als die Lage, in der du jetzt lebst. Ich sehe ja, wie du dich um alles quälst, um die Meinung der Welt und um deinen Sohn und um deinen Mann.«
»Ach, um meinen Mann nicht«, sagte sie mit einem ungezwungenen Lächeln. »Ich weiß nicht, wie es kommt; aber ich denke gar nicht an ihn. Er ist für mich nicht vorhanden.«
»Du sprichst nicht aufrichtig. Ich kenne dich. Du quälst dich auch um ihn.«
»Aber er weiß ja von nichts«, erwiderte sie, und plötzlich stieg ihr eine tiefe Röte ins Gesicht; Wangen, Stirn und Hals wurden dunkelrot, und Tränen der Scham traten ihr in die Augen. »Wir wollen gar nicht von ihm sprechen.«
23
W ronski hatte schon mehrmals, wenn auch nicht mit solcher Entschiedenheit wie jetzt, den Versuch gemacht, sie zu einer ernstlichen Prüfung ihrer Lage zu veranlassen, und war jedesmal bei ihr auf die gleiche Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit der Beurteilung gestoßen, die sie auch jetzt seiner Aufforderung gegenüber bekundet hatte. Es war, als ob in ihrer Lebenslage etwas enthalten sei, was sie sich nicht klarmachen könne oder nicht klarmachen wolle; es war, als ob sie, die wahre Anna, sich in sich selbst zurückzöge und dafür eine andere hervorträte, ein seltsames, ihm fremdes Weib, das er nicht liebte, sondern fürchtete, und das sich ihm widersetzte. Aber heute war er entschlossen, alles freiheraus zu sagen.
»Ob er es weiß oder nicht«, sprach Wronski in seinem gewöhnlichen festen, ruhigen Tone, »ob er es weiß oder nicht, das ist für uns nicht von
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