Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
blickte vor sich hin.
»Ich habe Sie schon früher einmal gebeten, sich in Gesellschaft so zu benehmen, daß auch die bösen Zungen nichts Nachteiliges über Sie sagen können. Es hat eine Zeit gegeben, da ich von dem innerlichen Verhältnis zwischen uns beiden sprach; davon spreche ich jetzt nicht mehr. Ich rede jetzt nur noch von unserem äußeren Verhältnis. Sie haben sich unpassend benommen, und ich möchte wünschen, daß sich das nicht wiederholt.«
Sie hatte kaum die Hälfte von dem gehört, was er gesagt hatte; sie fürchtete sich vor ihm, auch waren ihre Gedanken damit beschäftigt, ob es wohl wahr sei, daß Wronski sich nicht beschädigt habe. Hatte sich das auf ihn bezogen, als gesagt wurde, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen? Als ihr Mann zu Ende gesprochen hatte, beschränkte sie sich auf ein gekünsteltes, spöttisches Lächeln und gab ihm keine Antwort, weil ihr das, was er gesagt hatte, gar nicht zum Verständnis gekommen war. Alexei Alexandrowitsch war, als er anfing zu sprechen, festen Mutes gewesen; aber als er sich dann in voller Klarheit bewußt wurde, worüber er eigentlich sprach, da teilte sich die Furcht, die sie empfand, auch ihm mit. Er sah ihr Lächeln und geriet in einen seltsamen Irrtum.
›Sie lächelt über meinen Verdacht. Ja, sie wird im nächsten Augenblick dasselbe sagen, was sie mir damals gesagt hat: daß mein Verdacht unbegründet ist, daß er lächerlich ist.‹
Jetzt, wo die Enthüllung der ganzen Wahrheit wie ein Schwert über ihm schwebte, wünschte er nichts so sehr, als daß sie, wie das erste Mal, ihm spöttisch antworten möge, sein Verdacht sei lächerlich und ermangle jeder Begründung. Das, was er wußte, war so furchtbar, daß er jetzt bereit war, sich zu stellen, als ob er alles glaube. Aber der Ausdruck ihres Gesichtes, das angstvoll und finster aussah, benahm ihm die Hoffnung, daß sie wieder zur Lüge greifen werde.
»Vielleicht irre ich mich«, sagte er. »In diesem Falle bitte ich um Verzeihung.«
»Nein, Sie irren sich nicht«, erwiderte sie langsam und blickte voll Verzweiflung in sein kaltes Gesicht. »Ich war wirklich in Verzweiflung, und auch jetzt kann ich mich vor der Verzweiflung nicht retten. Ich höre Sie reden und denke an ihn. Ich liebe ihn, ich bin seine Geliebte; Sie sind mir unerträglich, ich fürchte mich vor Ihnen, ich hasse Sie ... Machen Sie mit mir, was Sie wollen.«
Sie lehnte sich in eine Ecke des Wagens zurück, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schluchzte. Alexei Alexandrowitsch saß da, ohne sich zu regen, und blickte unverändert wie vorher geradeaus. Aber sein ganzes Gesicht nahm plötzlich die feierliche Starrheit einer Leiche an und behielt diesen Ausdruck während der ganzen Fahrt bis zum Landhause bei. Als sie sich dem Hause näherten, wendete er seinen Kopf, immer noch mit dem gleichen Ausdrucke, nach ihr hin.
»Nun wohl! Aber ich verlange die Beobachtung des äußeren Anstandes bis zu dem Zeitpunkte«, hier begann seine Stimme zu zittern, »wo ich die nötigen Maßnahmen zur Wahrung meiner Ehre getroffen und Ihnen mitgeteilt haben werde.«
Er stieg zuerst aus und war ihr beim Aussteigen behilflich. Mit Rücksicht auf die Dienerschaft drückte er ihr die Hand; dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr nach Petersburg.
Gleich nach seiner Abfahrt kam ein Diener von der Fürstin Betsy und überbrachte Anna eine Karte:
»Ich habe zu Wronski hingeschickt und mich nach seinem Befinden erkundigen lassen; er schreibt mir, er sei gesund und unverletzt, aber in Verzweiflung.«
›Also wird er kommen‹, sagte sie sich. ›Wie gut habe ich daran getan, dem andern alles zu sagen.‹
Sie blickte auf die Uhr. Es fehlten noch drei Stunden, und die Erinnerung an die Einzelheiten ihres letzten Beisammenseins erhitzte ihr Blut.
›Mein Gott, wie hell es ist! Das ist ja ängstlich; aber dann habe ich es auch wieder gern, wenn ich sein Gesicht sehen kann, und ich liebe das märchenhafte Licht dieser hellen Nächte ... Mein Mann! Ach ja! ... Nun, Gott sei Dank, daß ich mit ihm völlig fertig bin.‹
30
W ie an allen Orten, wo Menschen einigermaßen zahlreich zusammenkommen, so vollzog sich auch in dem kleinen deutschen Badeorte, den die Familie Schtscherbazki aufgesucht hatte, der übliche sozusagen soziale Kristallisationsprozeß, der jedem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft einen festen, unveränderlichen Platz
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