Opferzeit: Thriller (German Edition)
Sonntagmorgen
Prolog
Tja, man lernt nie aus.
Ich hole tief Luft, schließe die Augen und drücke den Abzug bis zum Anschlag.
Die Welt um mich herum explodiert.
Sie explodiert mit einem Blitz, mit Lärm und mit Schmerzen, aber das ist nicht richtig, eigentlich sollte sie mit Dunkelheit explodieren. Eigentlich sollte ich in ein Tuch aus Schwarz gehüllt sein, das mich von hier fortträgt. Ich bin Slow Joe, und Slow Joe ist ein Gewinner. Ich habe alles unter Kontrolle, was sich zeigt, als mein Leben an mir vorüberzieht. Die Dunkelheit ist nicht mehr weit, aber zunächst muss ich Szenen mit meiner Mutter, mit meinem Vater, aus meiner Kindheit und aus der Zeit bei meiner Tante ertragen. Unzählige Stunden von Bildmaterial aus meinem Leben werden in Schnappschüsse zerlegt und zu einem zweisekündigen Film verdichtet; wie bei der Vorführung mit einem alten Filmprojektor geht eine Szene flackernd in die nächste über. Dann werden die Bilder schneller. Jagen durch meinen Kopf.
Aber da ist noch was.
Sally jagt mir ebenfalls durch den Kopf, nein, nicht durch den Kopf, sondern durch mein Blickfeld. Sie ist direkt vor mir, an mir, und hat ihren unförmigen Körper von oben bis unten gegen mich gepresst, so wie sie das immer wollte. Und es sind ein Dutzend Stimmen zu hören.
Ich knalle auf den Gehweg, und mein Arm wird zur Seite geschleudert. Mit meinem Körper schiebe ich Sallys Fleischmassen von mir fort, doch sie walzen über meine Gliedmaßen und drohen, mich wie ein weiches Sofa zu verschlucken. Ich bin zwar noch nicht tot, befinde mich aber schon in der Hölle. Planlos drücke ich den Abzug, ohne Erfolg, denn die Pistole ist nicht mehr in meiner Hand. Sally schnürt mir die Luft ab, und ich weiß immer noch nicht, was los ist. Die Welt steht Kopf, und eine Packung Katzenfutter drückt gegen meine Schulter. Mein Gesicht brennt und ist feucht von Blut. Und in meinem Ohr höre ich dieses schrille Kreischen, ein gleichförmiges Geräusch. Sally wird von mir heruntergezogen, und an ihrer Stelle erscheint Detective Schroder, und ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so erleichtert gewesen. Schroder wird mich retten, Schroder wird Sally mitnehmen und sie hoffentlich dort einsperren, wo man dicke Frauen wie Sally einsperren sollte.
»Ich bin …«, sage ich, aber bei dem Dröhnen in meinen Ohren kann ich nicht mal meine eigene Stimme hören. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Ich bin verwirrt. Die Welt ist völlig aus den Fugen geraten.
»Halt die Klappe«, brüllt Schroder, aber ich kann ihn kaum verstehen. »Verstanden? Halt die Klappe, oder ich jag dir eine verdammte Kugel in den Kopf!«
So habe ich Schroder noch nie erlebt, und nach dem, wie er mit Sally redet, ist er wohl echt sauer, weil sie sich auf mich geworfen hat. Plötzlich fühle ich mich ihm näher als je zuvor. Doch angesichts der Schmerzen und der Tatsache, dass Fat Sally mich gerade mit ihren Fleischmassen umschlungen hat, sehne ich mich nach der Kugel, die er ihr angedroht hat. Sehne ich mich nach glückseliger Dunkelheit und nach der Stille, die sie mit sich bringt. Aber ich halte den Mund. Fast.
»Ich bin Joe«, brülle ich für den Fall, dass den anderen ebenfalls die Ohren dröhnen. »Slow Joe.«
Irgendjemand, keine Ahnung wer, verpasst mir einen Tritt oder Schlag, er kommt wie aus dem Nichts, mein Kopf schnellt zur Seite. Für einen Moment verschwindet Schro der aus meinem Blickfeld, und die Seitenwand meines Wohnhauses schiebt sich ins Bild. Ich kann den obersten Stock und die Regenrinne erkennen und die verdreckten, gesprungenen Fenster, und irgendwo da oben befindet sich meine Wohnung, und ich will nichts weiter, als mich dort hinlegen und herausfinden, was los ist. Dann verschwimmt alles und scheint zu Boden zu träufeln, wie Wasserfarben, die von einem Bild laufen, bis nur noch das Rot übrig ist; daran ändert sich auch nichts, als man mich auf die Füße hievt. Meine Klamotten sind feucht, denn der Gehweg ist nass, weil es die ganze Nacht geregnet hat.
»Ich habe meinen Aktenkoffer vergessen«, sage ich, und das stimmt. Ich habe jedoch keine Ahnung, wo er ist.
»Halt. Verdammt noch mal. Die Klappe, Joe«, sagt je mand.
Joe? Ich verstehe nicht – sind diese Leute so gemein zu mir und nicht zu Sally?
Ich kann meine Hände nicht spüren. Ich habe die Arme auf dem Rücken, und sie sind so eng aneinandergekettet, dass ich sie nicht bewegen kann. Meine Handgelenke tun weh. Man zerrt mich fort, und ich komme ins Straucheln. Ich
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