Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Führerin, und der Fürst freute sich über den gerührten Gesichtsausdruck der alten Französin, als sie Kittys Stimme hörte. Sie zog ihn sofort mit dem echt französischen Überschwange von Liebenswürdigkeit in ein Gespräch, pries ihn glücklich, weil er eine so allerliebste Tochter habe, und erhob Kitty geradezu in den Himmel, indem sie sie, obwohl sie dabeistand, einen wahren Schatz, eine Perle, einen Engel des Trostes nannte.
»Nun, dann ist sie ein Engel zweiten Grades«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Als den Engel ersten Grades bezeichnet sie selbst Mademoiselle Warjenka.«
»Oh, Mademoiselle Warjenka, das ist ein wahrhaftiger Engel«, stimmte Madame Berthe bei. »Allez 1 !«
In der Wandelbahn trafen sie auch Warjenka selbst. Sie kam sehr eilig aus der entgegengesetzten Richtung; in der Hand trug sie ein elegantes rotes Täschchen.
»Sehen Sie, nun ist auch mein Papa angekommen!« sagte Kitty zu ihr. Warjenka machte so ungezwungen und natürlich, wie sie alles tat, eine Bewegung, die eine Art Mittelding zwischen Verbeugung und Knicks war, und begann sofort ganz schlicht und ohne Verlegenheit, wie sie mit allen Leuten sprach, mit dem Fürsten zu reden.
»Selbstverständlich kenne ich Sie und sehr genau«, sagte der Fürst zu ihr mit einem Lächeln, an dem Kitty zu ihrer Freude erkannte, daß ihre Freundin dem Vater gefiel. »Wohin wollen Sie denn so eilig?«
»Maman ist hier«, antwortete sie, sich zu Kitty wendend. »Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, und der Arzt hat ihr geraten, in ihrem Stuhl an die Luft zu fahren. Ich bringe ihr ihre Arbeit.«
»Das ist also der Engel ersten Grades«, sagte der Fürst, nachdem Warjenka sich entfernt hatte.
Kitty sah, daß er Lust hatte, über Warjenka seine Späßchen zu machen, dies aber doch nicht fertigbrachte, weil ihm Warjenka so gut gefallen hatte.
»Nun werde ich hier ja wohl alle deine Freunde kennenlernen«, fügte er hinzu, »auch Madame Stahl, wenn sie mir die Ehre erweist, mich wiederzuerkennen.«
»Hast du sie denn früher gekannt, Papa?« fragte Kitty ängstlich, da sie bemerkt hatte, daß bei Erwähnung der Madame Stahl ein spöttisches Leuchten in den Augen des Fürsten aufgezuckt war.
»Ich habe ihren Mann und sie einigermaßen gekannt, noch ehe sie unter die Pietisten ging.«
»Was sind das, Pietisten, Papa?« fragte Kitty. Sie war schon darüber ganz erschrocken, daß das, was sie an Frau Stahl so hoch schätzte, überhaupt eine bestimmte Benennung haben sollte.
»Ich weiß es selbst nicht genau. Ich weiß nur, daß sie Gott für alles dankt, für jedes Unglück ... selbst dafür, daß ihr Mann gestorben ist, dankt sie Gott. Na, und das kommt etwas komisch heraus, da sie sehr schlecht miteinander gelebt haben ... Wer ist das da? Eine Jammergestalt!« fragte er, als er auf einer Bank einen Kranken bemerkte, einen Mann von hohem Wuchs, in einem braunen Überrock und weißen Beinkleidern, die an seinen fleischlosen, knochigen Beinen seltsame Falten schlugen. Dieser Herr lüftete den Strohhut, den er auf dem spärlichen, lockigen Haare trug; es wurde eine hohe Stirn sichtbar, über die sich von dem Druck des Hutes ein roter Streifen hinzog.
»Das ist der Maler Petrow«, antwortete Kitty errötend. »Und da ist seine Frau«, fügte sie hinzu und zeigte auf Anna Pawlowna, die, wie mit Absicht, gerade in dem Augenblicke, als sie näher kamen, ihrem kleinen Kinde nacheilte, das auf einem Steige davonlief.
»Wie jammervoll er aussieht, und was für ein liebes, gutes Gesicht er hat!« sagte der Fürst. »Warum bist du nicht zu ihm hingegangen? Er schien dir etwas sagen zu wollen.«
»Nun, dann wollen wir hingehen!« versetzte Kitty und wandte sich entschlossen um. »Wie steht es heute mit Ihrem Befinden?« fragte sie den Kranken. Petrow stand, sich auf seinen Stock stützend, auf und blickte den Fürsten schüchtern an.
»Das ist meine Tochter«, sagte der Fürst. »Gestatten Sie mir, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Der Maler verbeugte sich und lächelte, wobei seine weißen, sonderbar glänzenden Zähne sichtbar wurden.
»Wir haben Sie gestern erwartet, Prinzessin«, sagte er zu Kitty.
Er wankte, als er das sagte, und suchte dann durch eine Wiederholung dieser Bewegung den Anschein zu erwecken, als hätte er sie auch zuerst absichtlich gemacht.
»Ich wollte kommen; aber Warjenka sagte mir, Anna Pawlowna lasse bestellen, daß Sie die Spazierfahrt
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