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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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fühlte, daß er auf der ganzen Linie geschlagen war, hatte aber zugleich die Empfindung, daß das, was er hatte sagen wollen, von seinem Bruder nicht verstanden worden war. Er wußte nur nicht, warum es nicht verstanden worden war: ob deshalb, weil er es nicht verstand, seine Meinung klar zum Ausdruck zu bringen, oder weil der Bruder ihn nicht verstehen wollte oder weil er nicht imstande war, ihn zu verstehen. Aber er vertiefte sich nicht weiter in diese Überlegungen, sondern begann, ohne seinem Bruder etwas zu erwidern, über eine ganz andere, ihn persönlich betreffende Angelegenheit nachzudenken.
     
    Sergei Iwanowitsch wickelte die letzte Angel auf, band das Pferd los, und sie fuhren heim.
     

4
     
    D ie persönliche Angelegenheit, die Ljewin während des Gespräches mit seinem Bruder sich hatte im Kopfe herumgehen lassen, war folgende: als er im vorigen Jahre einmal hinausgefahren war, um das Heumähen zu besichtigen, und sich dabei über den Verwalter hatte ärgern müssen, da hatte er sein beliebtes Beruhigungsmittel angewandt: er hatte einem Bauern die Sense weggenommen und selbst zu mähen angefangen.
     
    Diese Arbeit hatte ihm so gut gefallen, daß er nachher noch mehrmals zu ihr gegriffen hatte; er hatte die ganze Wiese vor dem Hause gemäht und sich in diesem Jahre gleich bei Frühlingsanfang vorgenommen, mehrere volle Tage mit den Bauern zusammen zu mähen. Aber mit der Ankunft des Bruders war er wieder unschlüssig geworden, ob er mähen solle oder nicht. Es war ihm peinlich, den Bruder ganze Tage lang allein zu lassen; auch fürchtete er, der Bruder werde sich wegen dieser Arbeit über ihn lustig machen. Als er jedoch über die Wiese gegangen war und sich der fröhlichen Stimmung erinnert hatte, in die ihn damals das Mähen versetzt hatte, da war er in seinem Vorsatze zu mähen beinahe wieder fest geworden. Nun, nach dem aufregenden Gespräche mit dem Bruder, kam ihm sein Vorhaben wieder ins Gedächtnis.
     
    ›Ich bedarf dringend körperlicher Bewegung; sonst verschlechtert sich entschieden mein Charakter‹, sagte er sich und beschloß zu mähen, ohne Rücksicht auf die peinliche Empfindung seinem Bruder und dem Bauernvolke gegenüber.
     
    Am Abend ging Konstantin Ljewin ins Kontor, traf Anordnungen für die bevorstehenden Arbeiten und schickte nach den Nachbardörfern, um für morgen Mäher zu bestellen, damit die Kalinowü-Wiese, die größte und beste von allen, gemäht werden könne.
     
    »Ja, und dann schicken Sie doch auch, bitte, meine Sense zu Tit; er soll sie dengeln und morgen mit hinausbringen; vielleicht mähe ich auch mit«, sagte er, bemüht, seiner Verlegenheit Herr zu werden.
     
    Der Verwalter antwortete lächelnd: »Wie Sie befehlen.«
     
    Abends beim Tee teilte Ljewin es auch seinem Bruder mit.
     
    »Es scheint, wir werden jetzt anhaltend gutes Wetter haben«, sagte er. »Morgen fange ich an zu mähen.«
     
    »Das ist eine Arbeit, die ich sehr gern habe«, erwiderte Sergei Iwanowitsch.
     
    »Ich habe sie außerordentlich gern. Ich habe schon früher manchmal mit den Bauern zusammen gemäht, und morgen habe ich vor, den ganzen Tag zu mähen.«
     
    Sergei Iwanowitsch hob den Kopf in die Höhe und sah seinen Bruder neugierig an.
     
    »Wie meinst du das? Ganz ebenso wie die Bauern, den ganzen Tag?«
     
    »Ja, das macht viel Vergnügen«, antwortete Ljewin.
     
    »Jedenfalls eine vorzügliche körperliche Übung; nur wirst du es schwerlich aushalten können«, erwiderte Sergei Iwanowitsch ohne allen Spott.
     
    »Ich habe es schon versucht. Am Anfang ist es ja schwer; nachher findet man sich hinein. Ich denke, ich werde hinter den andern nicht zurückbleiben ...«
     
    »Na so was! Aber sag mal, was machen denn die Bauern dazu für Gesichter? Die spötteln gewiß darüber, daß der Herr solche sonderbaren Einfälle hat?«
     
    »Nein, das glaube ich nicht; und dann ist es auch eine so lustige und zugleich eine so schwere Arbeit, daß man gar keine Zeit hat, sich Gedanken zu machen.«
     
    »Aber wie wirst du es denn mit dem Mittagessen halten, wenn du da mit ihnen zusammen bist? Dir eine Flasche Lafitte und eine gebratene Pute hinschicken zu lassen, würde doch nicht recht passend sein.«
     
    »Nein; während ihrer Ruhepausen will ich nach Hause kommen, sonst nicht.«
     
    Am andern Morgen stand Konstantin Ljewin früher als sonst auf; aber allerlei Wirtschaftssachen hielten ihn auf, und als er auf seinem Pferde zur Wiese hinauskam, gingen die Mäher schon in der zweiten

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