- Lasst die Toten ruhen
Einleitung
»Wer bist du Ungeheuer, der du in die friedlichen Wohnungen der Menschen mordend einbrichst und dich von ihrem Herzenblut nährest?«
Bis heute gilt mit gewissen Einschränkungen die Vorstellung, dass der Vampir als literarisches Motiv vor Bram Stokers 1897 veröffentlichtem »Dracula« in erster Linie eine britische Erscheinung sei. Wenn es in der deutschen Literatur überhaupt auftrete, dann nur vereinzelt und als Nachahmung von John William Polidoris 1819 veröffentlichtem »Der Vampyr«. Diese Einschätzung geht vermutlich auf den falschen »Reverend« Montague Summers zurück, der in seinem viel beachteten und kritisierten Werk »The Vampire. His Kith and Kin« aus dem Jahr 1928 im Literaturkapitel schreibt: »In Germany sensational fiction was long largely influenced by Polidori […]« Er wird sich in dieser Hinsicht auf Stefan Hocks »Die Vampirsagen und ihre Verwertung in der deutschen Literatur« gestützt haben. Doch der schon 1900 veröffentlichende Hock kannte zahlreiche Geschichten nicht – oder ließ sie bewusst aus, denn er verspürte anscheinend eine deutliche Abneigung gegen sein Thema; jedenfalls hielt er mehrfach fest, dass es kaum für ästhetisch anspruchsvolle Literatur geeignet sei.
Mich jedenfalls verwunderte die Vorstellung, es habe nur vereinzelte Vampirgeschichten gegeben, die zudem noch Nachahmungen seien. Zum einen hatte das Phänomen des Vampirglaubens im 18. Jahrhundert in der wissenschaftlichen Diskussion besonders im deutschen Raum großen Anklang gefunden. Da einige von der Habsburger Monarchie beherrschten Territorien sowohl zur deutschen Einflusssphäre als auch zur Heimatregion des Vampirglaubens gehörten, war diese Präsenz des Themas naheliegend. Hinzu kommt, dass das Vampirmotiv den Schritt aus dem Vampirglauben in die Literatur im Deutschen tat: 1748 wurde Heinrich August Ossenfelders Gedicht »Mein liebes Mädchen glaubet« abgedruckt. Auch wenn John Keats »Lamia«, Lord Byrons »Giaur« und besonders Samuel Tylor Coleridges »Christabel« einige Aufmerksamkeit erhielten, waren Gottfried August Bürgers »Leonore« und Johann Wolfgang Goethes »Die Braut von Korinth« im Rahmen der Vampirliteratur erheblich einflussreicher. Dabei blieb es nicht: Novalis, Heinrich Heine, Felix Dahn, das Vampirmotiv trat in deutschen Gedichten so lange auf, wie das Dichten en vogue war. In den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts ergoss sich zudem eine Welle von Vampirstücken auf die Bühnen; in Frankreich war das Thema anscheinend besonders beliebt, doch auch in Deutschland gab es einiges zu sehen. Das älteste Stück dürfte Heinrich Ludwig Ritters Drama »Der Vampyr, oder die Todten-Braut« von 1821 sein, eine Übersetzung von Charles Nodiers ein Jahr zuvor aufgeführtem »Le Vampire«, das bekannteste Stück Heinrich August Marschners 1828 uraufgeführte Oper »Der Vampyr«. Außerdem stammt die älteste bekannte Vampirgeschichte aus der Feder eines Deutschen: 1801 wurde Ferdinand Arnolds Roman »Der Vampyr« veröffentlicht – leider ist er anscheinend nicht erhalten geblieben.
Bei all diesen Voraussetzungen sollte es im 19. Jahrhundert – zumal in der das Mystische liebenden Romantik – nur vereinzelte Nachahmer gegeben haben? Das schien mir doch recht unwahrscheinlich.
Damit soll die Bedeutung der englischsprachigen Literatur für die Entwicklung des Vampirmotivs nicht negiert werden: John William Polidoris »Der Vampyr«, Elizabeth Caroline Greys bisher unübersetzte Kurzgeschichte »The Skeleton Count, or The Vampire Mistress«, James Malcolm Rymers Penny-Dreadful-Reihe »Varney der Vampir«, Joseph Sheridan Le Fanus »Carmilla« und besonders Bram Stokers »Dracula« sind Meilensteine, die zum Teil kaum zu überschätzenden Einfluss hatten und immer noch haben. Doch sie sind nicht im luftleeren Raum entstanden.
Während in Britannien mit dem viktorianischen Zeitalter im 19. Jahrhundert die Jahre relativ ruhig verstrichen, war Deutschland großen politischen Umwälzungen ausgesetzt. Es begann mit einem Knall: Nach dem Frieden von Luneville ließ Napoleon das seit dem Mittelalter bestehende Heilige Römische Reich Deutscher Nation auflösen und Deutschland neu ordnen – 1806 verzichtete der Habsburger Franz II. endgültig auf die Kaiserkrone und im selben Jahr wurde der Rheinbund gegründet. Im Zuge von Napoleons Niederlagen erhob sich auch Deutschland gegen die napoleonische Ordnung – es folgte eine Reihe von Gebietsstreitigkeiten. Diese »Restauration«
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