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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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einem Punkte zum andern hin und her sprangen und ohne allen Zusammenhang neue Gesichtspunkte einführten, so daß man nicht mehr wußte, worauf man antworten sollte. »Übrigens, darum handelt es sich nicht. Erlaube einmal! Gibst du zu, daß die Bildung für das Volk ein Segen ist?«
     
    »Ja, das gebe ich zu«, erwiderte Ljewin, ohne zu überlegen, und wurde sich gleich darauf bewußt, daß er etwas gesagt hatte, was seiner Ansicht nicht entsprach. Er merkte, daß, nachdem er dies zugegeben hatte, ihm bewiesen werden würde, daß er vorher leeres Zeug geredet habe, das eines vernünftigen Sinnes entbehre. Auf welche Weise ihm das bewiesen werden würde, wußte er noch nicht; aber daß es ein unzweifelhafter, logischer Beweis sein werde, das wußte er, und nun erwartete er diesen Beweis.
     
    Die Widerlegung gestaltete sich weit einfacher, als es Konstantin Ljewin erwartet hatte.
     
    »Wenn du sie als einen Segen anerkennst«, sagte Sergei Iwanowitsch, »so kannst du als Ehrenmann nicht umhin, ein solches Werk zu lieben und dich dafür zu interessieren, und daher muß es dir eine Herzenssache sein, dabei mitzuarbeiten.«
     
    »Aber ich gebe ja noch gar nicht zu, daß dieses Werk gut ist«, warf Konstantin Ljewin errötend ein.
     
    »Wie? Aber du sagtest doch eben erst ...«
     
    »Ich meine, ich erkenne es weder als gut noch als möglich an.«
     
    »Das letzte kannst du nicht wissen, ehe du nicht dafür alle Anstrengungen gemacht hast.«
     
    »Na, wollen mal annehmen«, erwiderte Ljewin, obwohl er es ganz und gar nicht annahm, »wollen mal annehmen, die Sache verhielte sich so; so sehe ich trotzdem nicht ein, warum ich mir damit Mühe machen soll.«
     
    »Wie meinst du das?«
     
    »Nein, wenn wir nun doch einmal in ein Gespräch darüber gekommen sind«, sagte Ljewin, »so erkläre mir die Sache auch vom philosophischen Standpunkte aus.«
     
    »Ich verstehe nicht, was hierbei die Philosophie soll«, versetzte Sergei Iwanowitsch, und zwar, wie es Ljewin vorkam, in einem Tone, als wolle er dem Bruder nicht das Recht zuerkennen, über Philosophie mitzureden. Und darüber ärgerte sich Ljewin.
     
    »Was sie hierbei soll? Das will ich dir gleich sagen!« begann er hitzig. »Ich glaube, daß die Triebfeder aller unserer Handlungen doch immer das persönliche Glück ist. Hier nun in unseren Verwaltungseinrichtungen auf dem Lande vermag ich als Edelmann nichts zu erblicken, was zu meinem Wohlbefinden beitragen könnte. Die Wege sind nicht besser geworden und können nicht besser werden; meine Pferde fahren mich auch auf schlechten Wegen. Ärzte und ärztliche Beratungsstellen habe ich nicht nötig. Den Friedensrichter habe ich nicht nötig; ich habe mich noch nie an ihn gewendet und werde mich nie an ihn wenden. Schulen sind für mich nicht nur entbehrlich, sondern sogar, wie ich dir schon gesagt habe, nachteilig. Ich habe von den Verwaltungseinrichtungen auf dem Lande weiter nichts als die Verpflichtung, achtzehn Kopeken die Deßjatine zu bezahlen, nach der Stadt zu fahren, dort in einem Bette zu schlafen, wo ich von Wanzen zerbissen werde, und alles mögliche sinnlose, widerwärtige Gerede mit anzuhören. Dazu aber treibt mich kein persönliches Interesse an.«
     
    »Erlaube«, unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch lächelnd, »ein persönliches Interesse war es auch nicht, das uns dazu antrieb, für die Aufhebung der Leibeigenschaft zu wirken, und wir haben doch dafür gewirkt.«
     
    »Nein«, unterbrach ihn seinerseits wieder Konstantin, der immer hitziger wurde. »Die Aufhebung der Leibeigenschaft, das war eine ganz andere Sache. Dabei lag allerdings ein persönliches Interesse vor. Jene Zustände lasteten wie ein schwerer Druck auf uns, auf allen rechtlich denkenden Menschen, und diesen Druck wollten wir gern loswerden. Aber dazu habe ich keine Lust, als Kreistagsmitglied dazusitzen, darüber zu verhandeln, wieviel Arbeiter zur Ausräumung der Abortgruben erforderlich sind und wie die Wasserleitung in der Stadt angelegt werden soll, wo ich doch gar nicht wohne, oder Geschworener zu sein und über einen Bauern zu Gericht zu sitzen, der einen Schinken gestohlen hat, und sechs Stunden lang all den Unsinn mit anzuhören, den die Verteidiger und Staatsanwälte zusammendreschen, und wie der Vorsitzende meinen alten dämlichen Aljoschka fragt: ›Gestehen Sie zu, Herr Angeklagter, die in Entwendung eines Schinkens bestehende Handlung begangen zu haben?‹ und wie der dann antwortet: ›Hä?‹«
     
    Konstantin Ljewin

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